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Bühne und Konzert Uraufführung

Eine Oper – vor allem für die Ohren

Er wird in Israel nicht reingelassen. André Jung (Johannes) an der Passkontrolle des Ben Gurion Airport. Die Choristen in der Schlange machen dazu Geräusche mit Geigenbögen Er wird in Israel nicht reingelassen. André Jung (Johannes) an der Passkontrolle des Ben Gurion Airport. Die Choristen in der Schlange machen dazu Geräusche mit Geigenbögen
Er wird in Israel nicht reingelassen. André Jung (Johannes) an der Passkontrolle des Ben-Gurion-Airport. Die Choristen in der Schlange machen dazu Geräusche mit Geigenbögen
Quelle: dpa/bwe hzf
„Wunderzaichen“: In Stuttgart vermengt der Lachenmann-Schüler Mark Andre eigene Israel-Erfahrungen mit der Biografie des schwäbischen Humanisten Johannes Reuchlin. Das ist von eigenwilliger Schönheit.

„Wir waren auf der Suche nach akustischen Spuren des heiligen Geistes“, antwortete der in Berlin lebende Komponist Mark Andre auf die Frage des Sicherheitsbeamten, was er denn in Israel gemacht habe. Das ist genau die Art von Antworten, die Sicherheitsbeamte grün im Gesicht werden lassen, und Andres Begleiter hatten alle Hände voll zu tun, glaubhaft zu machen, dass sie alle von der Stuttgarter Oper kämen, dass es dieses Opernhaus tatsächlich gebe und dass sie für einen Musiktheaterauftrag eben an diesen Mark Andre in Israel recherchiert hätten.

Diese Geschichte ist mehr als eine etwas skurrile Anekdote, weil Andres Oper, die jetzt naturgemäß in Stuttgart uraufgeführt wurde, mit genau dieser Szene beginnt: Passkontrolle am Flughafen und Fragen nach der Identität, und schon sind wir mitten drin im Thema. Oder besser: in einem der Themen, denn es geht außerdem um Judentum und Humanismus, vor allem aber um Johannes Reuchlin (1455-1522), den ersten deutschen Humanisten, den Goethe bewunderte: „Wer will sich ihm vergleichen, zu seiner Zeit ein Wunderzeichen“ – was der Oper zu ihrem Titel verhalf. Sie schreibt sich freilich sich mit „a“ - in Anlehnung an die Schreibweise zu Reuchlins Zeit.

Mark Andre, Jahrgang 1964 (der ursprünglich vorhandene Akzent auf dem „e“ ging bei der Übersiedelung nach Deutschland verloren), war unter anderem Schüler des Stuttgarter Komponisten Helmut Lachenmann („Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“), und das kann man hören. Wie bei Lachenmann ist auch bei Andre der geräuschhafte Anteil an den Klängen hoch, gleich in der ersten Szene ist der Chor mit Geigenbögen ausgestattet, mit denen alle möglicher Lärm erzeugt werden – nur eben keine Geigentöne. Es ist eine eigene Klangwelt, die Andre sich schafft, fremd und oft von großer Schönheit.

Der Tenor mit der Trompete

Nach dem Tod der Hauptperson Johannes erklingt eine ergreifende Totenklage: Der Tenor Matthias Klink singt immer nur denselben Ton, der aber ist klanglich umgeben von einer Trompete und vor allem von einer Vielzahl von Geräuschen, die zusammen eine Klangfläche ergeben – aber eine Klangfläche, die in sich unendlich oft gebrochen und deshalb immer aufregend und abwechslungsreich ist. Denn ein Werk von knapp zwei Stunden Dauer, in dem es keinen musikalischen Leerlauf gibt, muss man erst einmal schreiben.

„Wunderzaichen“ ist zumindest in Teilen eine Oper, in der vom Komponisten, der auch sein eigener Librettist war, und von Patrick Hahn eine Geschichte erzählt wird: Die ziemlich banale Story eines Reisenden, der die Personenkontrollen nicht überwinden und deshalb den Flughafen nicht verlassen kann, der mit einer gleichfalls gestrandeten Frau flirtet, der einen Herzinfarkt erleidet und stirbt und der in der nächsten Szene zwar wieder lebendig ist, deshalb aber trotzdem nicht aus dem Flughafen rauskommt.

Dieser Reisende heißt Johannes Reuchlin und ist eine Art Wiedergeburt des Humanisten, seine Flirtpartnerin heißt Maria und man darf getrost Magdalena ergänzen.

Das Problem ist: Es gibt eine Handlung und ein Libretto, doch man kann – ähnlich wie bei Lachenmann – die meisten der gesungenen oder gesprochenen Textworte nicht verstehen und soll sie wohl auch gar nicht begreifen, denn ganz bewusst wurde auf eine Übertitelung verzichtet. Wozu aber dann ein Libretto?

Vieles wird in dieser Oper angesprochen und abgehandelt, vielleicht zu Vieles. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn es die Musik nicht gäbe, die das alles zusammen hält. Jede Oper ist natürlich ein Gesamtkunstwerk, aber in diesem Fall wendet sie sich eindeutig mehr an die Ohren als an irgendein anderes Sinnesorgan.

Beifall für die strapazierten Klangtechniker

Um die Ohren zu beeindrucken, wurde auch kein Aufwand gescheut: „Wunderzaichen“ ist eine Koproduktion mit dem Freiburger Experimentalstudio des SWR, es wimmelt nur so von allen möglichen technischen Effekten, und völlig zu Recht trat der Stuttgarter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling einen Teil des Beifalls an die extrem strapazierten Klangtechniker ab. Und an seine Musiker, die mit den besonderen Anforderungen dieser Partitur glänzend zurecht kamen.

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Es gibt, von den Nebenrollen der beiden Flughafen-Beamtinnen abgesehen, nur zwei Sänger: Maria (die ausgezeichnete Claudia Barainsky, die auch in den extremsten Koloratur-Regionen feinste Piano-Abschattierungen hinbekam) und der Polizist, der auch Erzengel ist (der allen Höhenanforderungen gewachsene Tenor Matthias Klink). Johannes, die Hauptperson der Oper, ist eine Sprechrolle (der wie immer enorm ausdrucksstarke André Jung).

Die Regie im nüchternen Bühnenbild von Anna Viebrock hatte das vielfach erprobte Tandem Jossi Wieler und Sergio Morabito übernommen und für deren Verhältnisse fiel die Inszenierung ungewohnt naturalistisch aus – was bei einer Uraufführung sicher sinnvoll ist. Dass die beiden hervorragende Regisseure sind, merkte man eher an Kleinigkeiten: an Johannes, der nach Tod und Auferstehung seiner eigenen Totenbahre begegnet, vor allem an dem bis ins Detail durchinszenierten Chor, der ohnehin eine zentrale Bedeutung besitzt. Da war jeder einzelne Chorsänger ein Individuum, und in diesem Fall machten die optischen Reize den akustischen tatsächlich Konkurrenz – es gab sehr viel zu sehen.

Zum Glück, denn in der letzten Szene zieht sich das Stück doch merklich in die Länge. Man wünscht sich selbst und dem auferstandenen Johannes, dass er das Flugzeug nun endlich besteigen darf.

Termine: 7., 16., 22., 25. März

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