«Nachdenklich, ohne Emphase»

Seit sieben Jahren tüftelte der französische Komponist Mark Andre an seinem zweiten Bühnenwerk. Nun ist «wunderzaichen» an der Stuttgarter Oper uraufgeführt worden – insgesamt mit Erfolg.

Marco Frei
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Eigenwillig agiert die Menge der Fluggäste in der Stuttgarter Uraufführung von Mark Andres Oper «wunderzaichen». (Bild: PD)

Eigenwillig agiert die Menge der Fluggäste in der Stuttgarter Uraufführung von Mark Andres Oper «wunderzaichen». (Bild: PD)

Es ist nicht unbedingt den Werken selber geschuldet, dass im neuen Musiktheater allzu häufig Kopfgeburten hervorgebracht werden. Selbst der abstraktesten Kreation kann geholfen werden, zur Bühne zu finden – wenn die Regisseure nicht das Denkfieber mancher Komponisten verdoppeln, sondern keine Angst vor dem Konkreten, Sinnlichen, Narrativen haben. Das zeigte sich exemplarisch in Stuttgart, wo Jossi Wieler und Sergio Morabito die neue Oper «wunderzaichen» von Mark Andre inszenierten.

Abstraktes und Konkretes

Dabei hätte durchaus eine weitere Kopfgeburt herauskommen können, zumal das Libretto von Andre und dem Dramaturgen Patrick Hahn zahllose Motive aus Religion, Philosophie und jüdischer Mystik zusammenwürfelt. Von dem 73-jährigen Franzosen Jean-Luc Nancy stammt die Idee des fremden, transplantierten Herzens als «Eindringling», während die Reflexion der jüdischen Kabbala auf Johannes Reuchlin zurückgeht. Goethe nannte den Humanisten aus Pforzheim ein «Wunderzeichen», weil er zwischen Christen, Juden und Muslimen vermittelte.

In Andres «wunderzaichen» ist die Sprechrolle des Reuchlin die Hauptfigur eines Geschehens, das in vier «Situationen» durchaus linear erzählt wird. Dabei findet sich Reuchlin im Heute wieder, auf dem Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv, den die Bühnenbildnerin Anna Viebrock präzise und doch surreal nachbaute. Auf die Frage «Ihr Name» von Einreisebeamten vermag er nicht zu antworten, da in ihm ein transplantiertes Herz schlägt. Sein Zögern führt ihn in den Verhörraum der zweiten Situation.

Dort trifft er auf Maria, die er in der dritten Situation ausgerechnet in ein Fast-Food-Lokal einlädt. Die fragwürdige Gaumenfreude währt nicht lange, Johannes' fremdes Herz versagt. In der vierten und letzten Situation schält sich seine Seele aus dem toten Körper, um sich und die Welt zu betrachten. Dies alles kommt mit viel Ironie daher, und wenn laut Richard Strauss ein Komponist auch eine Speisekarte vertonen können muss, so gelingt dies Andre mit der Aufzählung der Speisen im Schnellrestaurant sicherlich ganz vortrefflich.

Denn ähnlich wie Olivier Messiaen ist Andre ein tiefgläubiger Komponist, was sich schon in seinem ersten Bühnenstück «. . . 22,13 . . .» von 2003 äusserte; allerdings ist «wunderzaichen» weit entfernt von einem religiösen Bekenntnis wie Messiaens «Saint François d'Assise». Zudem rückt Andre hier nicht das Sterben ins Zentrum wie Georg Friedrich Haas in der «Thomas»-Oper von 2013, auch wenn die Musik vielfach um Quarte und Quinte kreist – seit je Symbole des Todes und der Jenseitigkeit. Andres Oper möchte vor allem das Narrative und Nicht-Narrative ergründen, zumal sich die Musik durchaus für die Bühne eignet.

Vom Polizisten zum Erzengel

Vielfach entwirft Andre eine «musique concrète instrumentale» nach dem Vorbild Helmut Lachenmanns – fast schon realistisch, dem «Drama» dienend. Deswegen beginnt die Oper mit einem geräuschhaften Puls, der von Bassbögen erzeugt wird, die auf Plasticmanschetten gestrichen werden – gespielt vom Chor, bis sich die Stimmen ganz entfalten. Dieser Puls steht für das Herz Reuchlins und hält das Werk zusammen, bis zum Infarkt – ein starker Einfall. Zugleich kommen elektronische Klänge zum Einsatz, die Geräusche religiöser Stätten aus Israel verarbeiten (Realisation: SWR-Experimentalstudio).

Sie bestimmen insbesondere die Zwischenspiele, die die vier Situationen ähnlich sinnstiftend überbrücken wie die Inszenierung, die das Geschehen unterschiedlichen Ebenen zuordnet – was die Orientierung erleichtert. Virtuos und wirkungsvoll vermag Andre die zentralen Errungenschaften der neuen Musik zu vereinen, ohne einem postmodernen Allerweltsklimbim zu verfallen. Leider sackt in der zweiten Hälfte des hundertminütigen Werks die Qualität deutlich ab – zumal in der finalen Situation, die sich in quasiminimalistischen Repetitionen erschöpft.

Hier war der Oper anzuhören, wie sehr Andre mit ihr gehadert haben muss. Seit 2007 wuchs «wunderzaichen» heran, ursprünglich wollte Sylvain Cambreling mit der Oper 2012 seinen Stuttgarter Einstand als Generalmusikdirektor bestreiten. Dass dennoch bis zum Schluss einnehmende Wirkungen erzielt wurden, lag an den überragenden Leistungen der Ausübenden – allen voran von Chor und Orchester der Stuttgarter Oper. Unter der feinsinnigen, umsichtigen Leitung Cambrelings präsentierten sie sich wie Spezialensembles für neue Musik.

Bleibendes wurde da erreicht, was auch für die Solisten galt – allen voran für André Jung, der die Sprechrolle des Hauptprotagonisten ohne bedeutungsschwangeres Pathos verlebendigte. Sein Reuchlin war ein entfernter Verwandter von Schönbergs Moses, und der helle, klare Tenor von Matthias Klink machte hörbar, wie sich ein Polizist zu einem Erzengel verwandeln kann. Leider blieb Klink in seiner Rolle ähnlich unterfordert wie Claudia Barainsky als Maria oder Kora Pavelic und Maria Theresa Ullrich als Beamtinnen – weil Andre ein Problem mit dem Gesang hat? Jedenfalls agierten alle mit viel Empathie und Emphase, obwohl sich in der Partitur Anweisungen finden wie «Nachdenklich, ohne Emphase».

Ausgeklammertes Heute

Eine Distanz möchte Andre bisweilen aufbauen, was unter Cambreling im Grunde konterkariert wurde – weil er unüberhörbar diese Musik schätzte und liebte. Auch deswegen wurde diese Uraufführung keine weitere denkfiebrige Kopfgeburt; allerdings muss sich Andre die Frage gefallen lassen, was diese Oper eigentlich will. Statt couragiert die Finger auf die zahllosen Wunden der Gegenwart zu legen, flüchtet sich die Mehrzahl der jüngeren Komponisten in abgehobene Sujets. Auch Andres «wunderzaichen» ist weit entfernt von einer sozialkritischen Haltung, wie sie Luigi Nonos «Prometeo», Lachenmanns «Mädchen mit den Schwefelhölzern» oder Salvatore Sciarrinos «Superflumina» prägt.