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Keine Einreise ins Gelobte Land
Von Joachim Lange / Fotos © A. T. Schaefer Ehrlich gesagt sind Uraufführungen längst mehr Intendantenehrgeiz als Publikumswunsch. Und doch sind sie ein Überlebenserfordernis des Genres Oper. Man weiß ja nie, ob nicht doch mal eine Bereicherung für's Repertoire dabei ist. Auch Jossi Wieler, der in seinem zweiten Intendantenjahr an der Stuttgarter Oper das Haus mit seiner allseits geschätzten Regiehandschrift prägt, hält es so. An Mark Andre (39) ging der Auftrag - wunderzaichen heisst das Resultat, das Wieler und Sergio Morabito in einem Bühnenbild von Anna Viebrock und im Graben sekundiert vom Stuttgarter GMD Sylvain Cambreling jetzt gemeinsam zur Uraufführung brachten. Der Titel geht auf Goethe zurück, der mit Blick auf den Humanisten Johannes Reuchlin schrieb: „Wer will sich mit ihm vergleichen, seiner Zeit ein Wunderzeichen" - der Held des Stückes Johannes, könnte die Frage mit „Ich" beantworten, denn er fühlt sich dem Gelehrten Kollegen aus dem 15. Jahrhundert tatsächlich nahe. Einreise verweigert: Johannes im Flughafen Ben Gurion
Ehrlich gesagt sind Uraufführungen längst mehr Intendantenehrgeiz als Publikumswunsch. Und doch sind sie ein Überlebenserfordernis des Genres Oper. Man weiß ja nie, ob nicht doch mal eine Bereicherung für's Repertoire dabei ist. Auch Jossi Wieler, der in seinem zweiten Intendantenjahr an der Stuttgarter Oper das Haus mit seiner allseits geschätzten Regiehandschrift prägt, hält es so. Was der erkennbar von Helmut Lachenmann inspirierte deutsch-französische Komponist da zu dem (gemeinsam mit dem Dramaturgen Patrick Hahn) selbst verfassten Libretto komponiert hat, ist nur auf den ersten Blick in der Wirklichkeit von heute verwurzelt. Sogar ganz konkret auf dem Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv. Wo die Israelis die Einreise-Kontrollen ja ziemlich genau nehmen. Den einreisewilligen Johannes bringt das so aus der Fassung, dass der des Hebräischen mehr als kundige Gelehrte, der seit zwanzig Jahren mit einem fremden Herzen in der Brust lebt, in eine Identitätskrise gerät. Er verhält sich so verdächtig, dass ihm die Einreise verweigert wird. Mit der ebenfalls an der Einreise gehinderten Frau namens Maria (auf dem Hochseil mit Vokalisen: Claudia Barainsky) geht er essen und stirbt an einem Herzinfarkt. Aus der Perspektive einer anderen Existenz beobachtet er (oder seine Seele) fortan das Geschehen, in dem der Polizist zum Erzengel wird (Matthias Kling steuert tatsächlich feine Engelstöne bei) und über die letzten Dinge reflektiert. Am Ende wird er per Lautsprecherdurchsage als Passagier aufgerufen, wer weiß wohin… Beim Polizeiverhör unter der Flughafenhalle: Johannes (rechts) hat dort eine Leidensgenossin getroffen. Auch Maria darf nicht rein ins Gelobte Land.
So esoterisch und dezidiert verrätselt dieses äußere Geschehen klingt, so schwebend vage pulst auch die Musik durch den Raum um den vom Schauspieler André Jung nicht immer wortverständlich gesprochenen, in diesem Flughafen herumgeisternden Johannes herum. Anna Viebrocks Abflughalle mit Kassettendecke, Panoramafenster auf den Himmel über Tel Aviv und einem Untergeschoss, bei dem man getrost an die Grabeskirche denken soll, ist die pure optische Erdung im banal Wiedererkennbaren. Es ist der Raum für eine Musik, die sich aus dem Nichts mit Rascheln und Wispern einschleicht, wie ein Herzschlag pulst, an- und abschwillt, dann wie flächig geschichtet im Raum steht, während sie immer mal wieder von einem vokalen Windhauch verzittert wird. Zusammen mit der von den Seitenlogen und einer vom Experimentalstudio des SWR beigesteuerten, raffiniert installierten Technik wird so der ganze Zuschauerraum klangwolkig und schwirrend gefüllt. Das ist hochartifiziell und von einigem Raffinement. Die immanente Grenzgängerei, für die der Flughafen ein triftiges Sinnbild ist, macht den Reiz und die Herausforderung dieses Abends aus. Das Geschehen (bzw. Verharren) in diesem metaphorischen Transitraum lässt alle möglichen Deutungen zu. Die Suche nach der eigenen Identität, zwischen einer verinnerlichten Vergangenheit (wie Reuchlins Einsatz für das Judentum) oder dem aufgenommenem Fremden (wie das in Johannes transplantierte Herz), ist nur eine davon. Die Suche nach einer anderen Ebene der Existenz, dem Leben nach dem Tod oder dem Nichts ist eine andere. Während sich zum Ende hin die Wolken über dem Rollfeld immer mehr verdunkeln, treibt Andre die Entschleunigung auf die Spitze, lässt die Klänge im Raum stehen, hält die Zeit beinahe an. So, dass man sich vor der Unendlichkeit zu fürchten beginnt. So wie die Stuttgarter im Hier und Heute vor der bevorstehenden Sanierung ihres Staatstheaters.
Die Uraufführung von Mark Andres Oper Wunderzaichen in der Regie des Hauherrn Jossi Wieler ist eine sorgfältig gemachte, respektable Kunstanstrengung. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Licht
Chor
Live-Elektronische Realisation
Klangregie
Dramaturgie
Solisten
Johannes
Maria
Polizist / Erzengel
1. Beamtin
2. Beamtin
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