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Bühne und Konzert Verdi-Rarität

Pessimistischer Blick auf das Menschengeschlecht

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Packendes Priesterdrama, aber selten aufgeführt: Die Oper „Stiffelio“ von Giuseppe Verdi am Nationaltheater Mannheim Packendes Priesterdrama, aber selten aufgeführt: Die Oper „Stiffelio“ von Giuseppe Verdi am Nationaltheater Mannheim
Packendes Priesterdrama, aber selten aufgeführt: Die Oper „Stiffelio“ von Giuseppe Verdi am Nationaltheater Mannheim
Quelle: Hans Jörg Michel
Untreuedrama im Pfarrhaus: Giuseppe Verdis düstere Priester-Oper „Stiffelio“ ist noch zu entdecken. Regula Gerber stellt in Mannheim dem Einzelnen das starre Kollektiv gegenüber.

Eine Priesterfrau geht fremd, wird am Ende wieder mit Bibelversen in den Schoß der Kirche, aber wohl nicht den des Gatten aufgenommen. Das ist die eine Geschichte. Die andere geht so: Eine kranke Kurtisane opfert ihr letztes Lebensglück für die Gesellschaft, deren einzig wahrhaftiger Mensch sie ist.

Beides sind das jene „neuen grandiosen, schönen, abwechslungsreichen, gewagten Stoffe ... und zwar gewagt bis ins Extrem“, nach denen der endlich als Komponist arrivierte Giuseppe Verdi um die Jahrhundertmitte seine Librettisten ersuchte. Und es sind seine zwei einzigen ungeschminkt zeitgenössischen, sich in ihren sozialen Analysen und Anklagen nicht hinter dem gnädigen Faltenwurf einer fernen Vergangenheit versteckenden Werke.

Auch ein zynischer, buckliger Vater und eine so mord- wie rachesüchtige Zigeunerin spielen in jenen unmittelbar aufeinanderfolgenden Opern dieser besonders kreativen Ära dann noch als weitere Außenseiter-Protagonisten eine treibende Rolle.

„Stiffelio“ ist eine Paradepartie für dramatische Tenöre

Doch während ab 1851 „Rigoletto“, „Troubadour“ und „Traviata“ für Furore sorgten und den Weltruhm ihres Schöpfers endgültig begründeten, ja und sogar die Schiller-Adaption „Luisa Miller“ von 1849 inzwischen regelmäßig auf den Spielplänen erscheint, tut sich das packende Priesterdrama „Stiffelio“ von 1850 im Repertoire immer noch schwer.

Zwar wurde es drei Tage vor der Premiere im damals österreichischen Triest von der Zensur schwer verstümmelt, aber damit mussten auch der Hofnarr und die käufliche Dame kämpfen, die zudem unter einer extrem beleibten Uraufführungsinterpretin als nicht eben glaubwürdige Schwindsüchtige zu leiden hatte. Und die Kolportage von Azucena und den feindlichen Brüdern, die von einander nichts wussten, gilt als absurdeste Oper überhaupt.

Gut, „Stiffelio“ wurde erst 2003 in seiner authentischen Gestalt kritisch rekonstruiert, aber schon vorher war die Titelfigur eine Paradepartie für dramatische Tenöre wie Plácido Domingo, José Carreras oder José Cura, gerne auch als Vorstufe zum Otello. Gerade „Stiffelio“ erweist sich als spannendes Erkenntnisfeld für den fortgeschrittenen Hörer, der den hier kühn experimentierenden, um dramatische Glaubwürdigkeit ringenden Verdi erleben kann; gleichzeitig mangelt es der Oper, dass muss man ehrlich zugestehen, im Vergleich zu den folgenden Stücken trotz aller Avantgarde-Momente an wirklich zündenden, gar einprägsamen Melodien.

Kreuze beherrschen die Einheitsbühne

„Stiffelio“ ist ein extrem reduziertes, auf drei Personen eingedampftes Werk, mit dem typisch fordernden Verdi-Baritonübervater, einem zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Glaubensbewahrer und Ehemann zerrissenen Tenor und einem passiv leidenden Sopran; angesiedelt zudem in einem engen, regressiven Milieu. Ein emotional geschlossenes System also.

Und so zeigt es auch bewusst überspitzt und symbolisch minimalisiert die erfreuliche Neuinszenierung am Nationaltheater Mannheim; in Deutschland die erste seit Langem an einem größeren Haus, nachdem selbst im Verdi-Jahr 2013 nur die Bühnen Krefeld und Mönchengladbach sich dafür starkgemacht hatten.

Kreuze beherrschen Roland Aeschlimanns schwarz gestaffelte Einheitsbühne gleich siebenfach. Eines wird projiziert, ein zweites hängt im Hintergrund. Nummer drei hebt sich aus dem Boden, wo das vierte als Negativ neonhell leuchtet. Ein weiteres flammt in dessen Mitte auf, wenn zweimal belastende Briefe ins höllische Fegekreuzfeuer geworfen werden.

Per Fettfilm-Video schwappt die Sintflut heran

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Nummer sechs hebt und senkt sich aus Bühnendecke und Spielfläche als abschottende Wand, und das siebte prangt rechts an der Kanzeltreppe und wird als besonderes Zwangsinstrument der lemurenhaft verpuppten, endindividualisierten Gemeinde sowie ihren am wahren Glauben zweifelnden Vorstehern entgegengehalten.

Per Fettfilm-Video schwappt symbolsatt gleich zur mal dräuenden, mal trompetengrell federnden Ouvertüre die Sintflut als Bedrohung von außen heran, und ein Meteorit explodiert. Die grauschwarz schattiert schillernden Kostüme Andrea Schmidt-Futterers gleichen Insektenpanzern, hinter denen Gefühle umso stärker brodeln. Die beiden möglichen Verführer tragen Dandy-Anzüge des 19. Jahrhunderts; nur Lina, die vom Eheweg Abgekommene, ist ein engelhaft weißes, ätherisch verletzliches Kleiderflatterwesen.

Regula Gerber inszeniert ähnlich ostentativ, stellt den Einzelnen gegen das starr aufmarschierende, am Ende zwischen wie Speerspitzen herabsinkenden Orgelpfeifen positionierte Kollektiv. In den Duetten und Konfrontationen trennen Kreuzbalken und Schranken überdeutlich die Agierenden.

Bildkompositionen, die an Robert Wilson erinnern

Nur die Friedhofszene zwischen asymmetrisch gestreuten Grableuchten mildert die streng erhellten und ausgezirkelten Bildkompositionen, die in ihrer Silhouettenoptik ein wenig an den calvinistischen Robert Wilson erinnern. Was zum hermetisch protestantischen Opernthema gut passt. Nur in der allzu starren, auch flauen Personenführung werden dann Defizite der Differenzierung deutlich.

Während Alois Seidelmeier nicht immer gleich druckvoll mit seinem Orchester die Seelennöte und Zwänge der Protagonisten musikalisch moduliert, ist vor allem Martin Muehle mit seinem barotonal grundierten, männlich herben Tenor ein idealer Stiffelio. Da setzt die Stimme fort, was die verquält sich windende Körpersprache vorgibt. Galina Shesternevas Lisa kann ihre fragil leidenschaftliche Präsenz nicht mit der gleichen vokalen Konsistenz beglaubigen, ihr weißlicher Sopran flackert gern und klingt gepresst. Thomas Beraus starrsinnig auf Ehre bis hin zum eigenen, nicht ausgeführten Selbstmord beharrender Vater Stankar ist eine starke Bürstenhaarschnitt-Figur, er müsste nur nicht so dauerbrüllen.

Wie das Drehen einer Schraube läuft hier alles auf die ungewöhnliche, szenisch wie musikalisch extrem verdichtete Finalszene zu. Der im Gottesdienstritual ergebene Chor ist Klangfolie für den durch Zufall und Demut, fanatische Wut und enttäuschte Liebe ausgelösten Showdown auf der Kanzel: Während das Kreuz herunterkracht, wird die quasi von einer höheren Macht freigesprochene Lina von Stiffelio neuerlich als sexuelles Wesen erkannt, dem sich der Priester aber nicht mehr länger aussetzen will. Selten sah der sowieso schon düster gestimmte Giuseppe Verdi pessimistischer auf das Opernmenschengeschlecht.

Die Oper „Stiffelio“ ist am Nationaltheater Mannheim unter anderem am 9. April und am 17. und 19. Mai zu sehen.

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