Der Mensch in der Masse

Unlängst wurde in Düsseldorf ein erstes Tanztheater von Adriana Hölszky realisiert. Jetzt folgte am Nationaltheater Mannheim die Uraufführung der sechsten Oper der sechzigjährigen Komponistin.

Marco Frei
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«Rattenfänger» im Dienste totaler Herrschaft: Steven Scheschareg als Stawrogin. (Bild: Hans Jörg Michel)

«Rattenfänger» im Dienste totaler Herrschaft: Steven Scheschareg als Stawrogin. (Bild: Hans Jörg Michel)

Die Stärke von Adriana Hölszky ist ihr Mut zur Zeitkritik. Von dieser Haltung profitiert ganz wesentlich ihr Schaffen für das Musiktheater, wie schon die Wahl der Stoffe zeigt. Für ihre neue Oper, die in Mannheim uraufgeführt wurde, hat die in Stuttgart lebende Rumäniendeutsche auf Dostojewskis «Böse Geister» zurückgegriffen. Der Roman ist besser bekannt als «Dämonen»; der jetzige Titel stammt von der jüngsten Übersetzung von Swetlana Geier, die im Zürcher Ammann-Verlag erschienen ist. Zuvor kursierte das Werk ebenso als «Die Teufel» oder «Die Besessenen», was die Deutung nicht gerade einfacher macht.

Besessenheit und Macht

Manchen gilt das Buch als der erste surrealistische Roman der Weltliteratur, für andere nimmt es abgründige Visionen totalitärer Staaten wie Jewgeni Samjatins «Wir» von 1920 oder George Orwells «1984» vorweg. Denn Pjotr (der Countertenor Zvi Emanuel-Marial) strebt eine totale Herrschaft von Auserwählten an, wobei Stawrogin (Steven Scheschareg) als «Rattenfänger» fungiert. Dieser denkt weiter, was durch die Herrschaft der Eliten erst ermöglicht wurde – symbolisiert durch deren Repräsentanten Stepan (Martin Busen), Julia (Iris Kupke) oder Warwara (Evelyn Krahe).

Hemmungslos wird gemordet und gewütet, Widerstand ist zwecklos. Dafür steht ein Mädchen, das geisterhaft-stumm durch die Szene huscht; nach der Vergewaltigung durch Stawrogin hatte sie sich erhängt. Die hinkende Marja (Ludovica Bello) wurde hingegen verrückt, als sie ihr Kind von Stawrogin ertränkte. Es sind die Schicksale zumal der Frauen, die offenbaren, dass der «neuen Ordnung» nichts heilig ist. Für Lenin war dieser Roman Dostojewskis ein «antisozialistisches Pamphlet», bis 1957 wurde das Buch von den sowjetischen Behörden unterdrückt.

Von dieser visionären Kraft Dostojewskis blieb in Mannheim nicht viel übrig, was vor allem der Inszenierung von Joachim Schlömer geschuldet ist. Schon die Bühne (Jens Kilian) und die Kostüme (Heide Kastler) atmeten das vorrevolutionäre, zaristische Russland, obwohl Hölszkys Partitur als Zeit und Ort der Handlung «Gestern, heute, morgen» und «Hier, überall, nirgends» angibt. Die Historisierung verstellte den Blick auf das Allgemeingültige, darüber hinaus wurde im Grunde nur bebildert und nicht gedeutet.

Material und Handlung

Zwar wird in Hölszkys Oper die Handlung nicht linear erzählt, dennoch sind die persönlichen Geschichten wie auch der Lauf der Geschichte mehr als nur angedeutet. Dafür steht schon alleine die Musik, die bildhafte, geradezu körperliche Assoziationen weckt. Indes setzen Hölszky und die Librettistin Yona Kim im Grunde fort, was sie bereits 2004 in der Oper «Der gute Gott von Manhattan» nach Ingeborg Bachmann erprobt hatten. Auch diesmal ist das Libretto mehr eine Materialsammlung, mit der Hölszky vokale Klangaktionen ausfüllt – und das kann für die Regie ein Problem sein.

Einmal mehr steht der Chor im Zentrum, und es fasziniert, welche Klänge und Laute die Komponistin dem Chor entlockt. Die Anweisungen in der Partitur sind umfangreich, und manche Klänge wirkten wie elektronisch verfremdet, was sich im geräuschhaft-gestischen Instrumentalstil fortsetzte. Unter der Leitung von Roland Kluttig und Tilman Michael wurden Hölszkys Klangaktionen von Chor und Orchester in Mannheim sehr präsent und direkt verlebendigt. Da der Chor auf dem hinteren Logenrang über dem Publikum positioniert war, ergaben sich ausserdem eindrucksvolle Raumklang-Wirkungen.

Ein zweite Chance

Im Vergleich zum Chor fiel der solistische Gesang etwas ab, was indes viel über Hölszky verrät. Denn sie interessiert sich zuvörderst für den Menschen in der Masse, im Spannungsverhältnis zur Gesellschaft – vor dem Hintergrund ihrer Herkunft aus dem kommunistischen Rumänien verknüpfen sich damit auch persönliche Motive. Umso konsequenter war die Wahl des Dostojewski-Stoffes, zumal der Einsatz des Chores die sozialen Reibungen bühnenwirksam hörbar machte. Adriana Hölszkys neue Oper hat eine zweite Chance verdient – mit einer Regie, die konkret wird und Stellung bezieht.