Ideal und Alltag

Kurz vor dem Ausbruch der Festivalzeit bringt die Oper Stuttgart noch eine neue Produktion heraus. «Tristan und Isolde» von Richard Wagner findet keine durchwegs schlüssige Lesart.

Peter Hagmann
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Der schützende Vorhang wird heruntergerissen, zu Ende ist die Nacht der Liebe, blendend hell der Tag – «Tristan und Isolde» in Stuttgart. (Bild: A.T. Schaefer / Oper Stuttgart)

Der schützende Vorhang wird heruntergerissen, zu Ende ist die Nacht der Liebe, blendend hell der Tag – «Tristan und Isolde» in Stuttgart. (Bild: A.T. Schaefer / Oper Stuttgart)

Weder rot noch samten ist der Vorhang an diesem Abend in der Stuttgarter Oper, er führt vielmehr ein fotorealistisches Gemälde vor Augen. Zu sehen ist die Innenansicht eines kreisrunden Gebäudes, es könnte ein leerer, schon leicht verfallener Gasometer sein. Irritierend jedoch die auf mehreren Etagen umlaufenden Fenster und, vor allem, der Wachturm in der Mitte. Es handelt sich um das Panoptikum von Jeremy Bentham, das Michel Foucault in seiner Abhandlung «Überwachen und Strafen» von 1976 schildert: eine architektonische Struktur, in der jede Zelle überwacht werden kann, ohne dass es der Überwachte bemerkt. Im neuen Stuttgarter «Tristan», den der Regisseur Jossi Wieler und sein Dramaturg Sergio Morabito zusammen mit dem Bühnenbildner Bert Neumann und der Kostümbildnerin Nina von Mechow entwickelt haben, führt dieser bemalte Vorhang direkt in das Bild für den zweiten Aufzug. Tatsächlich schildert der Mittelakt in Richard Wagners «Handlung in drei Aufzügen» nicht bloss eine nur halb gelungene Liebesszene, sondern vor allem einen Moment ganz gelungener Überwachung. Melot ist der Spion, der Tristan und Isolde aus der Nacht der Liebe reisst und mit dem blendenden Tag der Realität konfrontiert.

Widersprüche

Scharf wird der Gegensatz zwischen dem Ideal einer vollkommenen Liebesbeziehung und den Gegebenheiten des Alltags gezeigt – so scharf, wie es im analysierenden, interpretierenden und zugleich verspielten Musiktheater von Wieler und Morabito der Fall ist. Diesmal allerdings nicht mit der Plausibilität, die bei Produktionen wie «La sonnambula» (2012) oder «Ariadne auf Naxos» (2013) erreicht worden ist. Schon im ersten Aufzug, der ganz konventionell ein Schiff auf hoher See zeigt – der tatsächliche Wellengang entspricht da dem seelischen –, kommt es zu Allgemeinplätzen in der Figurenzeichnung und treten Widersprüche heraus. Interessant, dass Katarina Karnéus mit ihrem in der Tiefe vorzüglich verankerten, nach oben hin aber besonders leuchtkräftigen Sopran eine Brangäne gibt, die der Isolde weniger Amme denn Schwester ist. Sie weiss sich auch zu wehren; wie ihr Isolde übermütig das Kopftuch herunterreisst, versetzt die Dienerin der Herrin eine schallende Ohrfeige. Das Vertauschen der beiden Fläschchen, das den Liebestrank statt des geforderten Todestranks zum Einsatz kommen lässt, wird dann aber nicht als willentlicher Verstoss gegen das Gebot, sondern als sogleich bereuter Fehler gezeigt. – Schon da gab es, auch das gehört zu Wieler und Morabito, die durchaus den Traditionen des Regietheaters verpflichtet sind, einiges an Verfremdung und Brechung. Im zweiten Aufzug verstärkt sich das. Wie er seinen Gefährten Kurwenal einem Hund gleich streichelt und krault, gibt Tristan, bevor die Nacht der Liebe herniedersinkt, den Gorilla, der auf allen vieren hüpft und mit seinen Fäusten die Matratze bearbeitet – was eine eigenartige Kluft zum musikalischen Geschehen aufreisst. Das Vorgehen erinnert an Wielers Inszenierung von Wagners «Siegfried» im Rahmen des legendären Stuttgarter «Rings» von 1999/2000. Nur war die dort gezeigte Kissenschlacht der Jugendlichkeit Siegfrieds geschuldet, während hier das Herumtollen nicht wirklich nachvollziehbar wird. Zumal Christiane Iven körperlich wie stimmlich eine eher reife Isolde ist – und eine, die sich kraftvoll den Wogen des Orchesters entgegenzustemmen weiss. Erin Caves liegt dieses Gehabe weniger. Er geht die Partie des Tristan von einem lyrischen, geschmeidigen Grundton her mit bewundernswerter dynamischer Differenzierung an und bleibt sich diesbezüglich auch in den Momenten zugespitzter Kraftentfaltung treu – um den Preis freilich, dass er mehr als einmal untergeht.

Zu laut

Das wiederum ist die Schuld des Stuttgarter Generalmusikdirektors Sylvain Cambreling, eines an sich vorzüglichen Dirigenten, der sich seit seiner Zeit in Brüssel auch bei Wagner auskennt. Oftmals viel zu laut, nicht selten klanglich grobkörnig, wie das Staatsorchester Stuttgart hier klingt. Wenn Tristan im dritten Aufzug einen seiner Spitzentöne erklimmt und es ihm die Trompete gleichtut, überstrahlt das Instrument den Sänger ohne Mühe. Das muss ebenso wenig sein wie die Unebenheiten in der Balance zwischen dem feinsinnigen Tristan und der eher deftigen Isolde. Weniger Mühe mit dem Orchester bezeugt Attila Jun; als König Marke tritt er hier röhrend, dort herzbewegend in Erscheinung. Grandios Shigeo Ishino, der den grossen Auftritt Kurwenals im dritten Aufzug mit Aplomb und blendender Diktion, mit Wachheit im Rhythmischen und weitem Ambitus bewältigt. Hier, im dritten Aufzug, gewinnt die Inszenierung dadurch, dass sie ihre formale Strenge zeigt. Da kehren das Schiff aus dem ersten Aufzug und die blendende Bühnenrückwand aus dem zweiten wieder. Und wird der Kontrast zwischen der idealen Liebe und dem Alltag auf der Ebene der Kostüme noch einmal zugespitzt. Auch wenn diese Arbeit nicht restlos geglückt ist: Formkünstler sind Jossi Wieler und Sergio Morabito auch hier.