Der Mensch in der Falle

Seit der Hamburger Uraufführung 1979 wurde Wolfgang Rihms Kammeroper «Jakob Lenz» oft inszeniert. Die jetzige Stuttgarter Neuproduktion setzt bleibende Massstäbe – in jeder Hinsicht.

Marco Frei
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In Stuttgart ist «Jakob Lenz» von Wolfgang Rihm alles andere als eine Literaturoper. (Bild: Bernd Uhlig)

In Stuttgart ist «Jakob Lenz» von Wolfgang Rihm alles andere als eine Literaturoper. (Bild: Bernd Uhlig)

Am Ende kauert er auf einer Liege. Er hat sich mit Kot beschmiert, wird festgehalten, vor sich selber geschützt. Sein Körper bebt, er reisst die Augen weit auf. Aus seinem Gesicht ist eine entsetzlich entstellte Fratze geworden. Er jammert und winselt, kichert und schreit, stammelt und stöhnt – sonst nur apathische Stille, in mentale Düsternis getaucht. Dieser Mensch ist am Ende, dem Wahnsinn verfallen. Es ist der Dichter Jakob Lenz in der Lesart von Georg Büchner, von Wolfgang Rihm kongenial zu einer Kammeroper verdichtet.

Gemarterte Seele

Von Goethe wurde Lenz zunächst geschätzt und dann verstossen, aus Lenz' Novelle «Die Soldaten» wurde die gleichnamige Oper von Bernd Alois Zimmermann. Und wie Rihms «Lenz» jetzt an der Oper Stuttgart realisiert wurde, das war grosse Musik- und Theaterkunst – zumal man den Mut hatte, das reduziert besetzte Werk nicht auf einer kleinen Studiobühne zu spielen, sondern im grossen Stammhaus. Dies glückte, weil allenthalben eine direkte Präsenz gelebt wurde, die visuell und akustisch den Theaterraum füllte.

Zugleich thronte nirgends ein effektlüsternes Zuviel, alles wurde schonungslos konsequent seziert, was gerade auch für Georg Nigls Auslegung der Titelfigur galt. Schon 2008 hatte er bei den Wiener Festwochen die Partie gestaltet, und auch jetzt gab er den Sängerdarsteller zum Besten, der tollkühn zwischen Leid und Qual, Wut und Angst sprang. Das ging einher mit einer stimmlich überreichen Ausdruckspalette, die Rihms stilistisch vielfältig auskomponiertes Psychogramm zwingend herausstellte. Ob Henry Waddington als hilfloser Gutmensch Oberlin oder John Graham-Hall als ungestüm überforderter Kaufmann, alles war erschütternd «echt» und hätte sich in jedem Wohnzimmer abspielen können – auch weil die Inszenierung von Andrea Breth ein feinsinniges Helldunkelszenario entwarf, das die elf Musiker des Staatsorchesters Stuttgart unter der umsichtigen Leitung von Franck Ollu aufgriffen. Gleich zu Beginn stürzte Lenz' gespiegeltes Ich vom Theaterhimmel, um als Schubertscher «Doppelgänger» durch die Szenen zu geistern. Bald schon krümmte sich Lenz in einem leeren Bücherregal, bis eine Büste Goethes zertrümmert auf dem Boden lag; sonst aber teilte sich die von Martin Zehetgruber meisterhaft entworfene und von Alexander Koppelmann klug ausgeleuchtete Bühne grösstenteils in zwei Ebenen. Für Lenz unerreichbar lockte oben die heile Welt der Bürger, während unten der Dichter zwischen Felsen herumkroch. Es ist die Landschaft einer versteinerten Seele, wie sie schon Büchner in seinem «Lenz» beschrieb. Grosse Spiegel verdoppelten dieses Bild, um es in den Zuschauerraum zu werfen.

Denn gemeint sind wir; wir können genauso scheitern. Damit wurde in Stuttgart auch deutlich, wie verwandt Rihms «Lenz», Helmut Lachenmanns «Mädchen mit den Schwefelhölzern» oder die in einem Bahnhof sozial gestrandete Frau aus Salvatore Sciarrinos «Superflumina» im Grunde sind – weil sie Empathie und Gesellschaftskritik leben. Der Grat zwischen sozialem Aufstieg und Abstieg, mentaler Norm und Wahnsinn ist sehr schmal, heute schmaler noch als vor drei Jahrzehnten bei der Geburt von Rihms «Lenz».

Klänge des Wahnsinns

Und so wird das Cembalo in Rihms «Lenz»-Oper immer präsenter, bis es, elektronisch verstärkt, den Klang dominiert. Das Cembalo wird bei Rihm zum Träger des Wahnsinns, wie später in Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» oder zuvor in den Shakespeare-Filmmusiken von Dmitri Schostakowitsch; im Chor herrschen die Stimmen der Schizophrenie. Nur die drei Celli sind Lenz' treue Begleiter, überdies die einzigen Streicher in dem von Bläsern und Schlagwerken beherrschten Orchester. Sie folgen Lenz bis in den finalen Abgrund: den Schrei ins Leere, das Ich in der Zwangsjacke.