Liebe und Uniformierung

Vor der Premiere von Puccinis «Manon Lescaut» in München sorgte die Absage von Anna Netrebko für Wirbel. Die neue Produktion mit dem Regisseur Hans Neuenfels ist aber hörens- wie sehenswert.

Marco Frei
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Mensch und Masse – auf diesen Kontrast setzt Hans Neuenfels' Münchner Inszenierung. (Bild: Wilfried Hösl)

Mensch und Masse – auf diesen Kontrast setzt Hans Neuenfels' Münchner Inszenierung. (Bild: Wilfried Hösl)

Die Bühne ist karg und leer im finalen Akt. Nur zwei Menschen, in Schwarz gekleidet, füllen den Raum: Manon Lescaut und Renato Des Grieux. Sie besitzen nichts weiter mehr als ihre unerschöpfliche Liebe. Das ist sehr viel in einem sozialen Kontext, in dem die Uniformierung auch die Gefühlswelt der Menschen normt. Am Ende kommt jedoch ihre Liebe gegen den Tod nicht an, und wie dieser Kampf nun von Jonas Kaufmann und Kristine Opolais an der Bayerischen Staatsoper verlebendigt wurde, das berührte und erschütterte zutiefst.

In der Neuinszenierung von Hans Neuenfels von «Manon Lescaut», der Oper Giacomo Puccinis, waren zwei Menschen zu erleben, die mit dem Schicksal rangen – liebestrunken und schmerzerfüllt. Kaufmann und Opolais gaben alles auf der Bühne, und ähnlich wie ihr darstellerisches Spiel harmonierten zugleich ihre Stimmen in Dynamik und Timbre ganz wunderbar. Das Klischee eines Puccini-Gesangs, das Italianità mit Stimmgewalt verwechselt, wurde von ihnen konzis infrage gestellt. Gemeinsam kreierten sie einen in sich geschlossenen Stimmenklang, eine Art vokale Kammermusik. Dies passte nicht nur zu der differenzierten, farbenreichen Umsetzung der Partitur durch das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Alain Altinoglu, der im kommenden Sommer in Bayreuth statt Andris Nelsons den von Neuenfels inszenierten «Lohengrin» dirigieren wird, sondern ebenso zur Reduktion der Regie. Es ist der erste Puccini von Neuenfels, und fast schon war man geneigt, die Absage von Anna Netrebko zwei Wochen vor der Premiere als Glücksfall zu bezeichnen – weil sich Opolais für diese Besetzung und Inszenierung sowohl stimmlich als auch darstellerisch wohl besser eignete.

Aufatmen konnte die Intendanz, denn die kurzfristige Absage Netrebkos hätte für das Haus ein Fiasko werden können. Endlich sollte die Star-Sopranistin nun auch in München in einer Neuproduktion zu erleben sein, dazu an der Seite von Star-Tenor Kaufmann, was für viele eine Sensation war – obwohl beide bereits 2008 in London gemeinsam eine «Traviata» gestemmt hatten, wenn auch nicht als Neuproduktion wie jetzt «Manon Lescaut» in München. Zweifellos wäre es spannend gewesen, Netrebko als Manon zu erleben, zumal sie sich derzeit immer mehr zu einer dramatischen Charakterdarstellerin entwickelt.

Auch die Münchner «Manon»-Besetzung mit Opolais und Kaufmann war keine Novität, bereits im Sommer waren beide in London mit dieser Oper zu erleben. Warum Netrebko das Handtuch geworfen hat, darüber schweigt sie sich aus. In einem Interview verriet nun Kaufmann, dass zwischen Netrebko und Neuenfels «die Chemie nicht gestimmt» habe. Dies überzeugt mehr als die offizielle Verlautbarung, wonach Netrebko ein Problem mit der Inszenierung gehabt habe; auch Neuenfels hatte dies in Interviews verbreitet.

In der Vergangenheit hatte Netrebko nämlich bereits in weitaus kontroverseren Inszenierungen mitgewirkt als der jetzigen «Manon» in München. Auch im Vergleich zu seinem Bayreuther «Lohengrin», der sich zu einem Publikumsliebling gemausert hat, wirkte Neuenfels' Münchner «Manon» sehr altersmilde und gemässigt. Tatsächlich erzählte Neuenfels diesen Puccini überaus musikalisch sowie dramaturgisch und textlich höchst präzise; eine ausgeprägte Werktreue wurde geboten, die ohne Historismus und Lokalkolorit auskam. Damit vereinte Neuenfels unterschiedliche Regiehaltungen, was zeitlos und zeitgemäss zugleich wirkte.

Selbst die teilweise ironisch gebrochenen Texteinblendungen liessen sich grundsätzlich mit Puccinis Intentionen begründen, zumal die «Manon»-Partitur ihrerseits mit programmatischen Erläuterungen aus der Erzählvorlage von Antoine-François Prévost angereichert ist. Als Fremdkörper konnte allenfalls der Chor wirken, der in larvenähnlichen grauen Kostümen mit breiten Hüften und roten Köpfen über die Bühne wuselte. Damit zitierte Neuenfels freilich die Laborratten aus seinem Bayreuther «Lohengrin», hier wie dort wird die uniforme Masse Mensch entlarvt. Aus dieser subjektlosen Menge traten Manon und Renato als einzig wahrhaftig Fühlende umso deutlicher heraus.

Dabei profitierte Neuenfels von einem Ensemble, das bis in die kleinste Rolle glänzend besetzt war – allen voran Markus Eiche als Manons Bruder Lescaut. Und doch bleibt ein schaler Nachgeschmack, denn obwohl diese Produktion PR-wirksam auf Netrebko und Kaufmann zugeschnitten war, wurden bereits gekaufte Karten nach der Absage Netrebkos weder umgetauscht noch erstattet. Immerhin wurde nun verkündet, dass Netrebko bei den Münchner Opernfestspielen in Tschaikowskys «Eugen Onegin» singen wird – statt Opolais. Die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski entwirft bekanntlich ein homoerotisches Szenario.