Der Einzelne als Teil des Systems

In Stuttgart ist die dritte von drei Neuinszenierungen zu sehen, die Mussorgskys Oper «Chowanschtschina» in den vergangenen drei Wochen erlebt hat. Noch einmal fällt ein anderes Licht auf das Stück.

Peter Hagmann
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Männermacht, Frauenschicksal: Mussorgskys «Chowanschtschina» in der Oper Stuttgart. (Bild: A.T. Schaefer)

Männermacht, Frauenschicksal: Mussorgskys «Chowanschtschina» in der Oper Stuttgart. (Bild: A.T. Schaefer)

Fürwahr düstere Gesellen sind das, die hier um die Macht ringen – und ob es sich dabei um die Zeit vor der Thronbesteigung Peters des Grossen oder um unsere Tage mit Putin handelt, ist absolut einerlei. Da ist zunächst der ebenso zu Trübsinn wie zu Grossmannssucht neigende Chowansky, der die für den Kreml zuständige Palastwache kommandiert: Askar Abrazakov gibt ihn mit hellem, aber scharf zeichnendem Bass – dass dieser Machtmensch nur ein an der Wodkaflasche hängendes Etwas als seinen Sohn (grossartig verkörpert von Mati Turi) ansehen muss, versteht sich. Und da ist auf der anderen Seite der einer Öffnung nach dem Westen hin nicht abgeneigte Golizyn: Bei Matthias Klink, einem enorm schönen Mann, dem der Ausstatter Christian Wiehle eine enorm schöne Uniform auf den Leib geschneidert hat, ist das ein eitler, von Putzwut heimgesuchter Feingeist, der seine Winkelzüge mit grossartig biegsamem Tenor vorträgt.

Bronzene Kraft

Zwischen den beiden steht Dossifej, der Anführer der Altgläubigen, welche die Reformen der Kirche nicht mittragen und darum das Schisma riskieren wollen: eine Figur, wie sie im Theatertraum lebt. Auch Mikhail Kazakov ist ein unglaublicher schöner Mensch, und auch er trägt eine unglaublich gut geschnittene Soutane – aber was dieser Sänger zu hören gibt, wenn er seinem Bass Lauf lässt, raubt einem förmlich den Atem. Eine bronzene Kraft entfaltet sich da, sie geht einem durch Mark und Bein. Ganz hinten in der Kehle sitzen die langgezogenen Vokale, die dem weit geöffneten Mund entströmen, und alle haben sie ihre prallen Farben. Und wenn der Priester dann mit Zeige- und Mittelfinger das orthodoxe Kreuzzeichen schlägt oder ein Machtwort unterstreicht, fällt jeder Widerspruch sogleich in sich zusammen. Das ist personifizierte Machtausübung in Reinkultur.

Andrea Moses, die ihre Inszenierung von Modest Mussorgskys Fragment gebliebener Oper «Chowanschtschina» in Dessau und Weimar entwickelt und jetzt an die Oper Stuttgart gebracht hat, zeichnet die Figuren unerhört genau. Mit nicht weniger Sinn für den Bühneneffekt als David Alden, der das Stück vor kurzem für die Flämische Oper in Antwerpen und Gent inszeniert hat, und mit jener ausgeprägten szenischen Phantasie, die Lev Dodin in seiner von der Wiener Staatsoper eben erst herausgebrachten Produktion so sehr vermissen lässt. Nicht alles gelingt dabei. Warum etwa der Strippenzieher Schaklowity, der in Antwerpen so tiefschwarz böse erschienen ist, in Stuttgart auch von einer Privatarmee begleitet wird, einfach der nächsten nach dem Untergang der Palastwache Chowanskys, warum er zudem mit einem so weichen Bariton wie dem von Ashley David Prewett besetzt ist, wird nicht wirklich schlüssig. Und die Figur der erotisch aufgeladenen, sich mehr und mehr aber zur Fanatikerin wandelnden Marfa erhält trotz dem vokalen Aplomb von Christianne Stotijn zu wenig Profil.

Wie sehr «Chowanschtschina» nicht nur Choroper, sondern auch Kammerspiel ist, das hat die Produktion in Stuttgart besonders spürbar gemacht. Andrea Moses, die ihre Stuttgarter Position als führende Regisseurin neben Jossi Wieler auf Ende dieser Spielzeit hin abgibt, erfüllt die Bühne mit Leben, indem sie – jenseits der obsoleten Frage nach dem sogenannten Regietheater, vielmehr in der guten Tradition Felsensteins – jeder der handelnden Figuren scharfes Profil verleiht, auch den am Rande stehenden. Zum Beispiel dem Schreiber (Daniel Kluge), der hier ein Journalist ist, der seine Dienste jedem Mächtigen anträgt. Wenn eine Gesellschaft wie die in «Chowanschtschina» an den Abgrund gerät, so geht das nicht auf ein anonymes System zurück, sondern auf handelnde, hier: um den Vorrang kämpfende Menschen – diese Botschaft tritt in Stuttgart deutlicher zutage als in Antwerpen, wo der Kampf aller gegen alle im Vordergrund stand, und als in Wien, wo überhaupt kein interpretatorischer Ansatz sichtbar wurde.

Verklingender Schluss

Weniger glücklich scheint Andrea Moses im Grundkonzept ihrer Inszenierung. Verortet wird das Geschehen auf dem Roten Platz in Moskau; die Silhouette der Basilius-Kathedrale tritt ins Licht, und dies in Verbindung mit Ikonen heutigen Marketings, wie es der russische Künstler Aleksandr Kosolapov in seinen Arbeiten tut. Das ist schön ausgedacht, wirkt aber hölzern – wie auch die Tableaus mit dem tüchtigen Stuttgarter Opernchor (Leitung: Johannes Knecht) einen Zug ins Brave aufweisen. Das Schlussbild, das den kollektiven Selbstmord der Altgläubigen zeigt, fand seine Wirkung weniger darin, dass der Chor in den Zuschauerraum tritt, wohin dann auch der reichlich eingesetzte Bühnendampf entweicht – sondern vielmehr in der Verwendung des Finales, wie es Igor Strawinsky und Maurice Ravel eingerichtet haben. Mussorgsky hat die Oper ja weder fertig komponiert noch instrumentiert. Auch in Stuttgart ist die heute übliche Einrichtung von Dmitri Schostakowitsch zu hören – die Simon Hewett, der Erste Kapellmeister des Hauses, am Pult des untadeligen Staatsorchesters Stuttgart allerdings viel zu wenig scharf ausformulieren liess, auch diesbezüglich hat Antwerpen die Nase vorn. Die Einrichtung Strawinskys, sie ist einige Jahrzehnte vor jener Schostakowitschs entstanden, lässt das Stück ganz leise verklingen – in Hoffnungslosigkeit oder Verklärung, wie man will. Dass das weitaus berührender wirkt als das bombastische Ende Schostakowitschs, auch das hat der Abend in Stuttgart gezeigt.