Noch ehe die Lichter der bayerischen Staatsoper komplett erloschen sind, knallt es. Man entwischt dem zur Zeit nicht sehr winterlichen München und findet sich in der Hitze Südspaniens wieder. Klammheimlich hatte sich Dirigent Omer Meir Wellber ans Pult geschlichen und das munter plaudernde Publikum mit der furiosen Ouvertüre zu Carmen regelrecht zusammenzucken lassen. Der Coup war geglückt und machte deutlich, was man vom bevorstehenden Abend auf keinen Fall zu erwarten hatte: Langeweile. Das ist nicht selbstverständlich, handelt es sich doch bei Bizets Carmen um die wohl meistgespielte Oper unserer Zeit, die die Mehrheit der Zuschauer wahrscheinlich nicht zum ersten Mal gesehen haben.

Regisseurin Lina Wertmüller, die die Oper 1992 für die Staatsoper inszenierte, verzichtete auf ein übermäßiges Bühnenbild und erzeugte vor allem mit durchdachtem Lichtspiel die für die Szenen notwendige Atmosphäre. Durch eine abgeschrägte Bühne wirkten besonders die Chorauftritte, und durch die betonte Räumlichkeit reichten Pappaufsteller wie Fassade der Tabakfabrik im ersten oder die der Stierkampfarena im letzten Akt, um ein interessantes Bühnenbild zu kreieren. Abgerundet wurde die Kulisse durch die bunten, opulenten Kostüme, die Wertmüllers mittlerweile verstorbener Ehemann Enrico Job gestaltet hat.

Bereits in der Ouvertüre betonte Wellber die leidenschaftliche Musik mit rasanten Tempi, vorwiegend in den Solopassagen des Orchesters, und hielt sie die gesamte Vorstellung über aufrecht, was Oper trotz ihrer dreistündigen Spielzeit sehr kurzweilig machte. Dass er jedoch nicht überhastet in einem Tempo durch die Oper jagte, bei dem er bisweilen große Mühe hatte, Orchester und Chor zusammenzuhalten, zeigten die wunderbaren ruhigen, klagenden Oboensoli.

Auf der Bühne hingegen musste sich Yonghoon Lee als Don José erst warmlaufen, konnte aber nach einigen technisch unsauberen tiefen Tönen in seiner leidenden Interpretation zu Anfang bei seiner Blumen-Arie glänzen. Eine solche Aufwärmphase konnte sich Gábor Bretz als Escamillo nicht leisten, dessen Parade-Arie mit dem Torero-Marsch gleich zu Anfang stand, und er stellte den Sprung vom stolzen Torero zu Carmens Liebhaber beeindruckend dar. Neben starken solistischen Leistungen war auch das Zusammenspiel – Tempodifferenzen beiseite – zwischen Orchester und Sängern sehr gut ausbalanciert und Wellber achtete stets darauf, auch die leisen Passagen nicht untergehen zu lassen, was besonders der Darstellung der Carmen zugute kam.

In dieser Rolle begeisterte die junge Französin Clémentine Margaine, die festes Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin ist. Mit ihrem dunklen Timbre und ihrer eindrucksvollen schauspielerischen Darbietung schaffte sie es, die frivole, umtriebige, manchmal intrigante Carmen bemerkenswert glaubhaft darzustellen. Bemerkenswert war auch Margaines großartiges Spiel zwischen feurigem Forte und vermeintlich unschuldigem Piano, das ihre Darstellung der Carmen auch gesanglich lebendig machte. Neben den bekannten Arien wie „L'amour est un oiseau rebelle“ oder die Séguédille-Arie überzeugte Margaine auch im runden Zusammenspiel im ihren Kollegen, beispielsweise im Quintett mit Frasquita, Mercédès, Remendado und Dancaïro. Das perfekte Gegenstück zu ihrer Carmen bildete Golda Schultz als Micaëla. Die zugeknöpfte, aber treue Micaëla, in dieser Inszenierung in ein Kostüm mit extra breiten Hüften gezwängt, karikierte Schultz mit Spießigkeit und Mädchenhaftigkeit, die sie mit einem klaren Timbre unterstrich.

Lina Wertmüllers Carmen-Inszenierung ist keine moderne, neuartige Interpretation. Neben soliden musikalischen Leistungen überzeugt sie vielmehr durch ihre minimalistische Aufmachung, die beweist, dass weniger manchmal mehr ist. Für den Knall sorgt ja sowieso die Bizet'sche Musik selbst.



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