Fast ein halbes Jahrhundert ist sie mittlerweile alt, die Nostalgie-Produktion von La bohème an der Bayerischen Oper in der Inszenierung des Wieners Otto Schenk. 1969 wurde diese Produktion zum ersten Mal aufgelegt, und sie rührt mit ihrer schlichten Schönheit bis heute das Münchener Opernpublikum zu Tränen. Vor ausverkauftem Haus demonstrierten Orchester, Chor und Solisten der Bayerischen Staatsoper am 23.1. wieder einmal, warum München mit beeindruckender Konstanz seit Jahrzehnten zu den besten Opernhäusern der Welt zählt.

Über diese historische Produktion wurde schon viel geschrieben, und es wäre töricht, sie in Bezug zu den Ansprüchen modernen Regietheaters zu setzen. Gerade weil Schenk nicht versucht, den auf die wesentlichsten zwischenmenschlichen Gefühle reduzierten Opernstoff mit den Mitteln der Regie neu zu deuten, wird seine Inszenierung stets aufs Neue funktionieren. Die Bühnenbilder sind ästhetisch und schön, nicht mehr, aber auch nicht weniger. So auch die traditionellen Kostüme und Requisiten von Rudolf Heinrich, der 1975 starb. Wenn man einen technischen Aspekt dieser Vorstellung kritisieren könnte, dann wäre dies vielleicht die Lichtregie in den ersten beiden Akten. Selbst in den besten Sitzen des Parketts war die Mansarde des Künstlers Rodolfo und des Dichters Marcello und auch die Straßenszene im Pariser Quartier Latin so düster ausgeleuchtet, dass man die Mimik der Interpreten nur schwer zu erkennen vermochte.

Der israelische Dirigent Dan Ettinger, der seit 2009 Generalmusikdirektor am Nationaltheater Mannheim ist, nutzte seine ganze Routine als Operndirigent, um das Staatsorchester nicht nur sicher durch die oft gespielte Partitur zu leiten, sondern auch im Einklang mit den großartigen Solisten stets im richtigen Moment zu emotionalen Höhepunkten zu motivieren. Stellenweise war der runde und kompakte Orchesterklang zwar ein wenig zu dominant und überdeckte die Solisten, insgesamt gelang den Musikern jedoch eine annähernd perfekte Darbietung der Oper von Giacomo Puccini.

Die Oper La bohème beginnt ohne Ouvertüre und transportiert die Zuhörer gleich mit den ersten Takten in das Leben einer armseligen Künstler-WG im Paris des Jahres 1830. Andrei Bondarenko als Marcello und Wookyung Kim als Rodolfo entführten dank ihrer Bühnenpräsenz das Publikum von Beginn an in die romantisch-verklärte und doch so bitterlich arme Lebenswirklichkeit. Bondarenko hatte zwar in den Anfangspassagen noch etwas Mühe, sein ganzes musikalisches Potential zu entfalten, schloss jedoch schon bald zu seinen erstklassigen Solisten-Kollegen auf.Nachdem Rodolfo wegen der klirrenden Kälte und in Ermangelung ordentlichen Brennholzes seine Manuskripte den Flammen opfern muss, betritt als nächster der Philosoph Colline die Bühne. Diesen mimte Nicolas Testé sängerisch und schauspielerisch äußerst überzeugend. Als sich dann der Italiener Andrea Borghini als Schaunard noch zu seinen Freunden gesellte und zudem Wein, gutes Essen und Brennholz mitbrachte, war die stimmgewaltigste Männer-WG der Musikgeschichte komplett und drückte ihre überschäumende Lebenslust sogleich musikalisch aus, sehr zur Freude des Münchener Opernpublikums.

Die tragische Figur der Mimì wurde von der rumänischen Sopranistin Anita Hartig herzzerreißend schön dargeboten. Anita Hartig verfügt über eine Stimme, die wunderbar klar und edel, zugleich aber auch anrührend süß und warm klingt. Spätestens als sie und Wookyung Kim ihre berühmten Arien „Che gelida manina“ („Wie eiskalt ist dies Händchen“) und „Sì. Mi chiamano Mimì“ („Man nennt mich Mimì“) sangen, flossen die ersten Tränen der gerührten Zuhörer. Wookyung Kim beeindruckte neben seiner schauspielerischen Leistung wieder einmal mit einer bemerkenswerten Beherrschung des Obertonspektrums seiner herrlichen Stimme. Das schreiend-schluchzende „Mimì“ am Ende der Oper hat man selten so ergreifend gehört, es schnürte einem regelrecht die Kehle zu. Bleibt noch, Golda Schultz als Musetta (Sporan) Tribut zu zollen. Die südafrikanische Sängerin ist ebenfalls Ensemble-Mitglied der Bayerischen Staatsoper und gab ihre Rolle gewohnt souverän.

Wenn man einen der zahlreichen Höhepunkte dieses herzerwärmenden Opernabends besonders hervorheben sollte, dann wäre dies wohl das Schlussduett des vierten Aktes „Sono andati? Fingevo di dormire“ („Sind sie gegangen? Ich gab nur vor zu schlafen“). Zwischen Zuversicht und Hoffnung, inniger intimer Liebe und tragischem Weltschmerz changierend, ist dies eine der wunderbarsten Passagen der musikalischen Weltliteratur und wurde von Anita Hartig und Wookyung Kim kongenial interpretiert. Glücklich, wer ein Taschentuch zur Hand hatte.

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