Kunstvoll am Abgrund

Die Oper mit der Wahnsinnsarie gerät in der neuen Münchner Produktion zu einer kreativen Begegnung zwischen Singstimme und Orchester. Zu verdanken ist das dem Dirigenten Kirill Petrenko.

Peter Hagmann
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Selbstbewusst verzweifelt: Diana Damrau in der Münchner Produktion von «Lucia di Lammermoor». (Bild: PD)

Selbstbewusst verzweifelt: Diana Damrau in der Münchner Produktion von «Lucia di Lammermoor». (Bild: PD)

Ob er auch das könne? Und ob er es auch so exzellent bewältige wie Wagners «Ring» in Bayreuth oder in München «Die Frau ohne Schatten» von Strauss und Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten»? Man muss Kirill Petrenko, den neuen Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, nicht zum Messias machen, aber der noch immer junge Dirigent aus Russland, der unter anderem in Wien das Handwerk erlernte und über das Meininger Theater und die Komische Oper Berlin rasch ins Rampenlicht kam – Kirill Petrenko kommt auch mit dem Belcanto, genauer: mit einem so heiklen Stück wie «Lucia di Lammermoor» von Gaetano Donizetti zurecht. Und mehr als das. Er nahm die Partitur mit so viel Akribie, Entschiedenheit und spontaner Musikalität zur Hand, dass das Stück schlechterdings wie verwandelt erschien.

Maestro concertatore

Das für die Produktion verwendete Notenmaterial entsprach dem neusten Stand, aber selbstverständlich hielt er es mit Nikolaus Harnoncourt, warf also prüfende Blicke ins Autograf. Vieles ist nämlich offen in dem von Donizetti in grösster Eile niedergeschriebenen Werk, anderes hat sich im Lauf der intensiven Aufführungsgeschichte verändert – da muss der Interpret in besonderem Mass seine Entscheidungen fällen. Petrenko hat sich den Fragen ganz bewusst zugewandt, die Italianità mit ihren wertvollen Traditionen, aber auch ihren Schlampereien war ihm nicht genug. Die Italianità gab es insofern, als sich Petrenko als ein ganz hervorragender «maestro concertatore» erwies: als ein Dirigent, der ganz nah bei den Sängern gestaltet, der mit ihnen atmet, ihnen folgt und ihnen den notwendigen Freiraum lässt. Gleichzeitig behielt er aber das Heft jederzeit in der Hand. Seine Tempi waren vorzüglich getroffen und wunderbar aufeinander abgestimmt, so dass die Strukturen der Nummern klar erkennbar wurden. Vor allem aber hielt er das Bayerische Staatsorchester, das höchstes Niveau zeigte, zu rhythmischer Präzision wie zu farbenprächtigem Spiel an – und das, obwohl er auf eine berückende Kultur des Leisen Wert legte. So ist «Lucia di Lammermoor» in der neuen Münchner Produktion nicht ein Werk für Singstimmen mit Humtata des Orchesters, die Aufführung zeigte vielmehr ein vitales Miteinander zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen.

Auch, ja vor allem in der Wahnsinnsarie. Sie blieb auch hier Höhepunkt des Abends und Prunkstück der Gesangskunst. Doch trug das Orchester die Sängerin in einer besonderen Weise, und da die von Donizetti vorgesehene, aber oft durch eine Flöte ersetzte Glasharmonika (Sascha Reckert) zum Einsatz kam, sorgte das instrumentale Kolorit für ganz eigene atmosphärische Wirkungen. Das Gläserne, Zerbrechliche dieser Klänge drückte aus, was Diana Damrau verschlossen bleibt. Sie ist nicht Edita Gruberova, die in dieser Arie von Anbeginn an das Grenzgängerische auslotete. Mit ihrer eher dramatisch angelegten Stimme steht die deutsche Sopranistin, die sich auch im italienischen Fach – etwa in der «Traviata» vor einem guten Jahr an der Mailänder Scala – zu bewähren weiss, für einen handfesteren, etwas stämmigen Belcanto. Ihre Lucia ist nicht von vornherein Opfer, sie wird dazu, nicht zuletzt in der Wahnsinnsarie. Wie sie aus dem Schlafzimmer kommt, wo sie ihren frisch angetrauten Ehemann beseitigt hat, trägt sie eine Pistole in der Hand, mit der sie den (von Stellario Fagone ausgezeichnet vorbereiteten) Chor in Schach hält. Diese Lucia ist eine starke, selbstbewusste Frau, die an stärkeren, selbstbewussteren Männern scheitert – Diana Damrau zeigt das in ihrer Weise ausgesprochen packend.

Lauter Bösewichte

Da braucht es Partner, welche die Höhe der Primadonna halten – und es gibt sie. Selbst Rachael Wilson in der kleinen Partie der Bedienten Alisa glänzt mit brillantem Klang. Erst recht gilt das für die Männer rund um Lucia: fast alle ausgemachte Bösewichte. Beim virilen, machtbewussten Enrico von Dalibor Jenis kommt das schlechte Gewissen, das auch zu dieser Figur gehört, kaum zum Tragen, mit seinem sonoren Bass gibt Georg Zeppenfeld einen unglaublich zynischen Raimondo, und selbst Dean Power als Normanno lässt es an Macho-Gehabe nicht fehlen. Das Weichei vom Dienst ist der superreiche Pseudo-Ehemann Arturo, der bei Emanuele D'Aguanno gut aufgehoben ist. Und dann wäre da noch Edgardo, der Feind Enricos, in dem Lucia das Glück ihres Lebens erkennt. Pavol Breslik lässt diese Figur durch und durch glaubwürdig werden, und dazu gelingt ihm sogar noch das Kunststück, die Oper nach dem Ende der Wahnsinnsarie mit einem grossartigen Auftritt sinnreich zu Ende zu führen. Und das alles in einer Inszenierung, die eher Schwarz-Weiss zeichnet. Die junge polnische Schauspielerin und Musikerin Barbara Wysocka verlegt die Handlung in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in die Jahre der Kennedys oder des Traumpaars Rainier und Grace – muss nicht sein, kann aber sein. Nicht fehlen darf da der Oldtimer auf der Bühne und die Zigarette, die stets zur Hand ist: zwei Chiffren, die nun allerdings arg verbraucht sind. Wichtiger als das ist freilich die ausdrucksstarke Personenführung, die dem musikalischen Erlebnis in nichts nachsteht.