Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

Lucia di Lammermoor – Gaetano Donizetti
Bayerische Staatsoper, 26. Januar 2015. Premiere

Bild: Oliver Schopf

Liebhaber fragen sich gelegentlich, mit welchem Werk sie Uneingeweihte für die Oper gewinnen könnten. Mein Vorschlag wäre Donizettis "Lucia di Lammermoor". Nicht allein wegen der eingängig-zugänglichen Musik sowie der stringenten Handlung, die sich ohne Knoten in der Zunge nacherzählen lässt, sondern auch wegen des Themas: der Wahnsinn. Kaum ein anderes Phänomen dürfte dem modernen Menschen die artifizielle Opernwelt voller Ekstase und Emphase näherbringen als der Irrsinn. Da wir den Wahnsinn vermeintlich begreifen, nennen wir das Unbegreifliche Wahnsinn. So erscheint das Überdrehte des Musiktheaters thematisch legitimiert, die Hysterie der Opernkunst geeignet, die Überhitzungen des Geistes abzubilden. Daher "Lucia di Lammermoor", ein Werk, das mit frappierenden Mitteln beschreibt, wie eine Frau an der brutalen Machtratio der Männerwelt zerbricht. Nicht zu empfehlen ist aber die jüngste Inszenierung in München, es sei denn mit verbundenen Augen.

Foto: W. Hösl

In der Inszenierung der jungen Polin Barbara Wysocka wird die großartige Sopranistin Daina Damrau zu derangierten Gesten gezwungen, so als litte sie an nervösen Zuckungen. Während der kolossalen Wahnsinnszene, bei der eigentlich auf exemplarische Weise aufgezeigt wird, welcher kognitive Abgrund sich zwischen der Gesellschaft und einer Irrsinnigen auftut, bis letztere in die endgültige Isolation fällt, fuchtelt Lucia minutenlang mit einer Pistole herum, wie eine Geiselnehmerin am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ihr Geliebter Edgardo hantiert ähnlich stümperhaft mit derselben Pistole, bis er Lucia auf unfreiwillig komische Weise in den Tod folgt. Hier wird Wahnsinn reduziert auf einen versäumten Grundkurs in sachgerechtem Schusswaffengebrauch. Eingebettet wird diese Farce in einen beliebig scheinenden Griff in die Kostümkiste: die modischen Accessoires von Grace Kelly, Jacqueline Kennedy und James Dean feiern elegante Auferstehung. Folgerichtig fährt der Tenor mit wallendem Haar über die Videowand, bevor er sein Cabriolet in die Projektionswand rammt. Und es wird natürlich geraucht, inzwischen wird ja auf den Bühnen mehr gepafft als in einer Marlboro-Werbung (die Opernhäuser werden bald Rauch-Coaching anbieten müssen).

Foto: W. Hösl

Musikalisch fühlte sich das schlanke Dirigat von Kirill Petrenko in der ersten Hälfte wie maßgeschneidert an, im letzten Akt wurde aber zunehmend hörbar, dass die zunächst ansprechende Klarheit teilweise mit Simplifizierung erkauft wurde. Wie ein Mensch den Boden unter den Füßen verliert, wurde auch musikalisch nicht vermittelt, so dass sich – im Vergleich etwa zu Ana Durlovskis grandioser Interpretation der Lucia in Stuttgart – eher Respekt vor der technischen Könnerschaft einstellte als Ergriffenheit oder gar Erschütterung.

Höhepunkt: Die einsamen Töne der Glasharmonika im Zwiegespräch mit dem klaren Gesang von Diana Damrau in der Wahnsinnsarie.

Coda: Wer sich einen eigenen Eindruck verschaffen möchte, kann dies am 8. Februar um 18.00 Uhr auf www.staatsoper.de/tv live und kostenlos tun. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 27.1.2015)