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Staatsoper München
Lucia in neuem Licht

München, das Opernhaus des Jahres 2014, bestätigt einmal mehr seinen hervorragenden Ruf, meint Christoph Schmitz. Barbara Wysockas bringe mit ihrer Inszenierung von Gaetano Donizettis Oper "Lucia di Lammermoor" das Nationaltheater zum Vibrieren - auch dank eines erstklassigen Solistenensembles.

Von Christoph Schmitz | 27.01.2015
    Rachael Wilson als Alisa and Diana Damrau als Lucia Ashton "Lucia di Lammermoor" von Gaetano Donizetti an der Bayerischen Staatsoper in München.
    Rachael Wilson als Alisa and Diana Damrau als Lucia Ashton "Lucia di Lammermoor" von Gaetano Donizetti an der Bayerischen Staatsoper in München, (imago/DRAMA-Berlin.de)
    Der Kern von Donizettis Oper ist das Schicksal einer Frau. Durch die Intrigen einer von Männern beherrschten Welt kommt sie nicht zu ihrem Recht. Lucias Wünsche werden weggewischt, ihr Wille wird neutralisiert, ihr Lebensglück geopfert auf dem Altar der politischen Eigeninteressen einer Männerclique.
    Den geliebten Edgardo darf Lucia nicht heiraten, obwohl sich die beiden längst verbunden haben. Stattdessen muss Lucia die Ehe mit Arturo eingehen, der wiederum Lucias Bruder Enrico die bedrohte Macht samt Vermögen sichern soll. Aus Sicht des gesellschaftlichen Mainstreams wird Lucia darüber verrückt, tötet im Wahn ihren frisch angetrauten Ehemann Arturo gleich in der Hochzeitsnacht und geht selbst am eigenen Kummer zu Grunde.
    Bewusstes Handeln gegen Bevormundung
    Für ein emanzipatorisches Aufbegehren gibt es keinen Spielraum. Aber damit will sich die Regisseurin der Münchener Inszenierung, Barbara Wysocka, nicht abfinden. Sie negiert die Pathologisierung der Titelheldin. Die Lucia der Barbara Wysocka handelt bewußt, tötet bewußt, wehrt sich mit aller Kraft gegen die Bevormundung, versucht Herrin des Geschehens zu bleiben, auch wenn sie dabei untergeht.
    Die Oper gibt diese Deutung durchaus her. Wysocka zeigt Lucia so in einem ganz neuen Licht. Sie ist nicht mehr nur Opfer, sondern ein Opfer, das sich mit Leibeskräften wehrt.
    Die Regisseurin und ihr Team erzählen das ganz und gar plausibel und sind dabei so klug, die Handlung nicht in unsere unmittelbare Gegenwart zu verlagern, in der Frauen sich nicht mehr so ohne Weiteres den Machtspielchen der Männer beugen.
    Wysocka hat die Geschichte in die 1950er und 60er-Jahre verlegt. Lucias Geliebter, Edgardo, sieht aus wie James Dean. Sie selbst wie die Frauen mächtiger und berühmter Männer jener Zeit: Jacqueline Kennedy und Grace Kelly beispielsweise. In einem heruntergekommen Palastsaal, in dessen hintere Wand der enttäuschte Edgardo gerade seinen Straßenkreuzer gegen die Wand gefahren hat, singt Lucia ihren Kummer auf der Hochzeitsparty frei heraus und bedroht die Gesellschaft mit einer Pistole, mit der sie den Bräutigam zuvor erschossen hat.
    "Der süße Klang seiner Stimme hat mich berührt. Diese Stimme ist mir ins Herz gedrungen. Edgardo! Ich bin wieder die Deine. Deinen Feinden bin ich entflohen."
    Diese Oper atmet
    Diana Damrau singt und spielt die Titelfigur. Ihr klarer, perfekt konturierter, vor allem in den mittleren und tiefen Lagen farbenreicher Sopran überzeugt mit technischer Brillanz und psychologischem Gespür. Ihre meisterlichen Koloraturen sind nie artistischer Selbstzweck, sondern zeichnen immer eine Seelenlandschaft. Als Schauspielerin ist Diana Damrau ein Energiebündel. Manchmal überagiert sie allerdings. Etwa in der gerade gehörten Szene. Beim Revolvergefuchtel müßte die Regisseurin noch kräftig nachjustieren. Neben Diana Damrau bietet die Münchener Inszenierung ein erstklassiges Solistenensemble samt Chor, mit Dalibor Jenis als gefährlich-kaltem Enrico, mit Georg Zeppenfeld als magisch-manipulativem Raimondo und mit Pavol Breslik als leidenschaftlichem Edgardo. In seinem strahlenden Tenor schwingt immer wieder ein schöner lyrischer Unterton mit, wie hier, bevor Edgardo sich am Schluss das Leben nimmt.
    "Bald wird ein vergessenes Grab mir Zuflucht gewähren. Eine mitleidige Träne wird nicht darauf fallen."
    Münchens Generalmusikdirektor Kirill Petrenko läßt die Oper atmen. Nichts Mechanisches ist da mehr zu hören. Donizettis formale Strenge, die die Hysterie der Personen immer einhegt, pulsiert bei Petrenko und strahlt Wärme aus. Und wenn Petrenko es drauf anlegt, beginnt der ganze Innenraum des Nationaltheaters zu vibrieren wie ein überdimensionales Cello, sodass man am liebsten die Schuhe abstreifen würde, um mit den Füßen den Klang in den Dielen noch deutlicher zu spüren. Das Opernhaus des Jahres 2014 bestätigt einmal mehr seinen hervorragenden Ruf.