Dekadenz und Entfremdung

Knapp 250 Jahre nach ihrer Uraufführung ist Niccolò Jommellis «Berenike» in der Oper Stuttgart zu einer neuen Produktion gekommen. Insgesamt bleiben die Eindrücke zwiespältig.

Marco Frei
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Berenice (Ana Durlovski) steht im Zentrum des Verwirrspiels der Liebe in Zeiten des Krieges. (Bild: A. T. Schaefer)

Berenice (Ana Durlovski) steht im Zentrum des Verwirrspiels der Liebe in Zeiten des Krieges. (Bild: A. T. Schaefer)

In der Regel urteilt die Musikgeschichte gerecht. Dennoch lässt sich auch Werken, die ins Abseits geraten sind, zu neuem Glanz verhelfen. Niccolò Jommellis Oper «Il Vologeso» von 1766, die nun in Stuttgart unter dem Titel «Berenike, Königin von Armenien» Premiere hatte, ist ins Abseits geraten – auch wenn sie zu den grossen Werken des Stuttgarter Hofkomponisten zählt und unter der Leitung von Frieder Bernius überaus hörenswert eingespielt wurde (Orfeo). Indessen hat jetzt die erste Neuproduktion fast 250 Jahre nach der Uraufführung dem Werk nicht geholfen.

Konventionell

Denn obwohl mit Bernius in Stuttgart ein stilsicherer Originalklang-Exeget und Jommelli-Kenner wirkt, beschränkte sich die Zusammenarbeit mit ihm auf die Sichtung der Quellen. Für die Stuttgarter Aufführung wurde die Transkription der handschriftlichen Partitur herangezogen, die Bernius für deren Einspielung vor zwanzig Jahren verwendet hatte – mit Strichen in einigen Rezitativen. Musikalisch kam mehr ein Jommelli aus der Sicht des 20. Jahrhunderts zu Gehör, wenngleich das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Gabriele Ferro stets bemüht war, den Klang agil zu entschlacken.

Hierfür hat Ferro nicht zuletzt die Streicher im Graben zu drei Gruppen aufgeteilt, zwei kleine Streichorchester seitlich und ein Streichquartett in der Mitte; damit wurde zugleich Jommellis wirkungsvolle Instrumentation auch räumlich erfahrbar. Darüber hinaus schenkte das dosierte Vibrato den Solisten auf der Bühne viel vokalen Freiraum; gleichwohl machte sich eine historisch informierte Befragung des Gesangs rar. Vibrato und Timbre der Stimmen blieben eintönig, die Affekte erfuhren wenig Verlebendigung. Und obwohl es heute eine Vielzahl an exzellenten Countertenören gibt, wurden die Partien des Partherkönigs Vologeso (Sophie Marilley) und des Gesandten Flavio (Catriona Smith) mit Frauenstimmen besetzt.

Vor der Premiere nannte Sergio Morabito als Co-Regisseur in einem Interview die heutige Präsenz der Countertenöre eine «Modeerscheinung»; dass die Nebenpartie des Aniceto, die mit dem Altus Igor Durlovski besetzt wurde, wie eine Persiflage erschien, war vor dem Hintergrund dieser Äusserung nicht verwunderlich. Dabei hätte der Regie Morabitos und des Opernintendanten Jossi Wieler der Einsatz von Countertenören gutgetan, weil die geschlechtsspezifische Personenführung hörbar gemacht und zugleich klanglich aufgeweicht worden wäre.

Wie schon der Stuttgarter Arbeitstitel suggeriert, stand in dieser Neuinszenierung Berenice im Zentrum (Ana Durlovski). Sie ist mit Vologeso verlobt, der gegen Lucio Vero (Sebastian Kohlhepp) zu Felde zieht. Vero ist Mitregent des römischen Kaisers Marc Aurel und Bräutigam von Lucilla (Helene Schneiderman). Er verliebt sich in Berenice, die ihrerseits glaubt, dass Vologeso im Krieg gefallen sei. Doch Vologeso lebt, womit das Verwirrspiel der Liebe in Zeiten des Krieges beginnt. Berenice muss sich entscheiden, ob sie dem Werben des reichen Lucio nachgibt oder dem kriegstraumatisierten Vologeso treu bleibt – ein kluger Ansatz, der zu wenig verdichtet wurde.

Gespiegeltes Heute

Obwohl Wieler und Morabito sonst auf das Narrative setzen, blieb diese Inszenierung trotz ironischen Brechungen statisch, was zuvörderst Anna Viebrocks Bühnenbild geschuldet war. Antik-barocke Säulen prallten auf halbverfallene Fassaden unserer Zeit, gewürzt mit Zitaten aus Tintorettos Gemälde «Die Fusswaschung» von 1548/49, womit Viebrock auch die Kritik an der römischen Dekadenz in Jommellis Opernstoff einfangen wollte. Am Ende freilich offenbarte sich die aktuelle Tragweite, als die Protagonisten ihre Kostüme ablegten und in Alltagskleidern über die Bühne irrten – entfremdet und hyperaktiv verstört, im Zeitalter der Postmoderne.