Premiere in Mailand:Ohne Pädagogenknüppel

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An der Scala: Riccardo Chailly sucht Modernität in Giacomo Puccinis "Turandot" - die Uraufführung von Giorgio Battistellis Oper "CO₂" wird ein charmant-freundliches Mysterienspiel.

Von Reinhard J. Brembeck

Unaufgeregt hält der Klimaforscher David Adamson seinen Vortrag, erzählt, was jeder weiß: dass sich die Erde erwärmt, dass Menschen das verursachen, dass eine Boeing 747 auf einem Flug so viel CO₂ produziert wie 3500 Autos in der Woche. Adamson erklärt, dass Kohle die Grundlage des Lebens sei, dass Kohlendioxid von den Pflanzen in Sauerstoff verwandelt wird, aber dass es, im Übermaß produziert, die Wärmeabstrahlung der Erde verhindert und deren Erwärmung befördert. Das sind Binsenweisheiten, aber erst deren Wiederholung garantiert, dass diese Erkenntnisse einen allgemeinen Bewusstseinswandel auslösen.

Also hält David Adamson unermüdlich seinen Vortrag, auch an ungewöhnlichen Orten. Jetzt ist er damit in der Mailänder Scala angekommen und wird dafür vom Publikum wohlwollend und ausgiebig beklatscht. Allerdings läuft der Vortrag nicht ganz störungsfrei ab. Denn die Scala ist ein Opernhaus, das berühmteste Italiens. Als Adamson das Wort "Creation" (Schöpfung) ausspricht, setzt unvermittelt das von Cornelius Meister animierte Scala-Orchester ein und malt das uranfängliche Chaos als Tondichtungsgebrodel. Bald schon beruhigt sich das Geschehen, aus dem Off wird die indische Variante von Schöpfung und Weltuntergang gesungen, Tempeltänzer schweben über die Bühne. Adamsons Vortrag heißt "CO₂", hier als Opernuraufführung, und den Wissenschaftler, eine fiktive Gestalt, singt Anthony Michaels-Moore.

Schöpfungschaos ist seit Joseph Haydn ein beliebtes Betätigungsfeld für Komponisten, und Adamsons Vortrag bietet viele solcher gern vertonten Standards: Stürme, Liebesduett, Urmuttergeraune, Wassermusik, Apokalypse. Intendant Stéphane Lissner, der eben zur Pariser Opéra gewechselt ist, hat mit Giorgio Battistelli, Jahrgang 1953, Italiens derzeit fruchtbarsten Opernkomponisten beauftragt, die Musik für "CO₂" zu schreiben. Jetzt muss Lissners Nachfolger Alexander Pereira das Stück als Scala-Beitrag zur gerade eröffneten Weltausstellung mit ihrem Schwerpunkt auf Ernährung und Ressourcen präsentieren. Im traditionsorientierten Scala-Betrieb ist diese Uraufführung ein Fremdkörper. Das merkt, wer am Vortag die "Turandot" von Giacomo Puccini besucht, die zeitgleich zur Expo-Eröffnung auf die Bühne kam. Da führt in einem leuchtend roten Einheitsbühnenbild der Veteran Nikolaus Lehnhoff Regie: Aufmarsch der Solisten und Chöre, Stehtheater, Abmarsch. Das ist regiefreie Opernregie, wie sie in Italien beliebt ist.

Die entscheidende Frage des Stücks aber wird deshalb auch hier nicht beantwortet: Warum ist die beeindruckend von Nina Stemme gesungene Männerhasserin Turandot zuletzt doch bereit, sich dem von Einspringer Stefano La Colla unbeteiligt gegebenen Obermacho Calaf hinzugeben? Diese Frage konnte selbst Puccini nicht beantworten, er brachte das Finale nicht zustande. Sein Kollege Luciano Berio hat die Skizzen zu diesem Finale vor knapp 15 Jahren fertigkomponiert. Berio verabschiedet sich von Puccinis blockhaft eindeutiger, ganz auf Wirkung gerichteter Schreibweise. Er komponiert Fragezeichen, bringt viele Zweideutigkeiten à la Richard Wagner ins Spiel. Erst im erzwungenen Kuss, so Berio, erwache Turandots verdrängte Sinnlichkeit. Das denkt zwar das Machotum des Stücks konsequent zu Ende, dennoch wirkt das Finale erzwungen und konventionell. Riccardo Chailly, der neue Musikchef der Scala, hat dieses Finale einst uraufgeführt und dirigiert es auch jetzt. Schon davor spürt er Puccinis Modernität nach, der Nähe zu Igor Strawinsky und dem französischen Impressionismus - und kann dann nicht verhindern, dass Berios raffiniert angereichertes Finale ein Fremdkörper bleibt.

Battistelli schreibt Arien, Chöre und Instrumentalsätze, die in der Tonalität verwurzelt sind

Das sich aber wunderbar als Vorspiel zu "CO₂" eignet. Zwar schreibt Battistelli, der schon Pasolini, Ernst Jünger, Keppler, García Márquez und die Handwerker seines Heimatdorfs auf die Bühne gebracht hat, markante und gut singbare Arien, Ensembles, Chöre und tänzerische Instrumentalsätze, die in der Tonalität verwurzelt sind. Doch bei aller Liebe zur Fasslichkeit unterfüttert Battistelli alles mit sirrenden Motivgerinnseln, die alles Plakative untergraben und der Musik eine geheimnisvolle Grundierung verschaffen. Es gibt keine avantgardistischen Spekulationen, alles ist unmittelbar verständlich. So hat Battistelli schon immer gearbeitet, aber 2015 trifft seine Ästhetik auf die mainstreamige Erwartungshaltung eines Publikums, das auf alle Innovationen und Experimente verzichten kann.

Ausgedacht hat sich "CO₂" der englische Dramatiker und Lyriker Ian Burton. Er verzichtet auf eine durchgehende Handlung, er erweitert stattdessen den Vortrag Adamsons um Episoden und gern auch mit Zitaten aus Christentum, Hinduismus oder Homer. In seiner moralischen Grundhaltung erinnert der Text zudem an mittelalterliche Mysterienspiele und die handlungsfreien Oratorien Händels.

Der Regisseur Robert Carsen lässt die Episoden in dem von Paul Steinberg entworfenen Riesenrahmen eines Computerbildschirms spielen. Hier tummelt sich - ein Flug nach dem anderen wird gestrichen - am Flughafenterminal eine zunehmend aufgeregtere Menschenmenge, hier finden sich im Treibhaus Adam und Eva, erbeuten Hausfrauen im Supermarkt die aus absurd entfernten Weltgegenden importierten Waren. Hier trifft sich aber auch die Weltgemeinschaft 1997 zum Kyoto-Protokoll, singt Urmutter Erda ihre Weltenanklage, wirft eine Frau in einen betörend blauen Pazifik ihren Kranz für den beim Seebeben 2004 in Thailand umgekommenen Schwager. Und das alles in nur eineinhalb pausenlosen Stunden.

Der Erfolg dieser Opernuraufführung liegt auch darin, dass der drohende Weltuntergang nicht mit dem Pädagogenknüppel präsentiert wird, sondern charmant freundlich. Weil das konsequent abgehandelte Thema deshalb nie moralisierend banal daherkommt, fühlt sich auch niemand provoziert oder angeödet. In der Hoch-Zeit der musikalischen Avantgarde wäre dieses Stück als zu nett für sein Thema abgetan worden. Heute ist diese unaufdringliche Schreibweise eine Stärke.

© SZ vom 18.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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