Auf ausgetretenen Pfaden

Am Ende der Intendanz von Georges Delnon deutet Vera Nemirova am Theater Basel Peter Ruzickas Oper «Hölderlin» neu: mit viel Mut zur eigenen Lesart, aber auch mit viel Klamauk und zu wenig Gehalt.

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Michelle Ziegler ⋅ Das Musiktheater «Hölderlin – eine Expedition» von Peter Ruzicka und Peter Mussbach thematisiert existenzielle Fragen. Doch schon nach der Uraufführung 2008 in der Lindenoper Berlin blieben Fragezeichen. Und dies nicht nur, weil Librettist und Komponist vor der Premiere medienwirksam einen Streit um Urheberrechte austrugen. Die Schweizer Erstaufführung am Theater Basel vermag diese Fragezeichen zum Abschluss der Intendanz Georges Delnons nicht auszulöschen. Die Regisseurin Vera Nemirova verliert sich in einer Interpretation, die mit abgegriffenen Bildern von Sex- und Gewaltexzessen müde an die Arbeit des Basler Hausregisseurs Calixto Bieito erinnert – und für lange 135 Minuten sorgt.

Leere Worte

Das Musiktheater «Hölderlin» nähert sich den existenziellen Fragen mit Einblicken in verschiedene Lebenswelten. Dreizehn Menschen finden sich nach einer Katastrophe in einer Eislandschaft wieder. Sie erhalten in der Apokalypse die Gelegenheit, ihr Leben zu überdenken. Obschon sie auf die bedrückenden Fragen keine Antworten finden, führt der Weg sie im vierten Akt in eine Idylle, in der Mensch und Natur eins sind. Orientierung bietet dabei Hölderlin, aus dessen «Hyperion» und «Empedokles» die meisten Textbausteine stammen. So weit, so gut. Nur spinnt der Librettist Mussbach um diesen Kern ein diffuses Netz an Szenen aus dem heutigen Alltag: aus dem Grossraumbüro, dem Fitnessstudio und dem Swingerklub. Weder in den Dialogen in Alltagssprache noch in den vermeintlich tiefgründigen Kommentaren findet Mussbach den passenden Ton, seine Aussagen wirken abgedroschen und unausgereift.

Peter Ruzicka spielt in seiner musikalischen Umsetzung mit der Erinnerung: Seine Musiksprache orientiert sich an Richard Wagner, Gustav Mahler und Alban Berg. Direkte und indirekte Zitate stehen zwischen plötzlichen Schlagzeug-Eruptionen und weit gespanntem Unisono der Geigen. Ohne persönliche Prägung verblasst deren Wirkung indes schon im ersten der vier Akte, wodurch im Folgenden nur leere Hülsen bleiben.

Wie Mussbachs Worthülsen wirkt diese Musik abgestumpft. Da half bei der Premiere auch das Engagement des Komponisten im Orchestergraben des Sinfonieorchesters Basel wenig. Pech zudem für die Rolle der «F1»: Wegen einer Erkältung spielte Sarah Maria Sun ihren Part zwar auf der Bühne, wurde aber stimmlich von Lini Gong im Orchestergraben vertreten – was diese trotz kurzer Vorbereitungszeit eindrücklich meisterte.

Leere Bilder

Vera Nemirovas Inszenierung will das unglückliche Gefüge kitten und stülpt dem Ganzen eine greifbare Geschichte über: Die Vertreterin eines Immobilienhändlers (Claudia Jahn) platzt in eine Bühnenprobe und verkündet, das Theater werde geschlossen und umgebaut. Trotz untröstlich herumschreienden Leidtragenden nimmt das Projekt seinen Lauf, wobei die Sänger im zweiten Akt aber immer noch Zeit für Darbietungen grosser Opernmomente, für Demonstrationen, ja Sexorgien finden. Schliesslich bricht das Theatergebäude (Bühne: Heike Scheele) auseinander, und die Sänger finden sich in einem schmucklosen Arkadien wieder.

Soll dieses Theater etwa für unsere Zeit stehen? Die «künstlerische Heimat» der Sänger für das verwerfliche Leben? Gemäss Nemirova zeigen die Sänger die Möglichkeit verantwortlichen Handelns auf – und doch packen sie am Ende die Koffer! Schliesslich lässt sich das Stück auch dadurch nicht retten, dass ein Regisseur (Christian Heller) aus Mussbachs dick auftragenden, üppig wuchernden Regieanweisungen zitiert.

Die Selbstreflexion verläuft sich selbstverliebt auf ausgetretenen Pfaden. Und dies entlockt dem Premierenpublikum am Schluss nicht einmal ein Buh. Nur dünnen, resignierten Applaus aus Sitzreihen, die sich in den zweieinviertel Stunden der Aufführung merklich leerten. Dieser ausgewaschene «Hölderlin» dürfte alsbald in der Schublade verschwinden. Es wäre nicht schade darum.