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Bühne und Konzert Die doppelte Lulu

Warum müssen Frauen immer gleich unglücklich sein?

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Urgestalt des Weibes: Marlis Petersen als Lulu an der Bayerischen Staatsoper Urgestalt des Weibes: Marlis Petersen als Lulu an der Bayerischen Staatsoper
Urgestalt des Weibes: Marlis Petersen als Lulu an der Bayerischen Staatsoper
Quelle: © Wilfried Hösl
Alban Bergs „Lulu“ prägt unser Bild des Urweibes, der tragischen Frauengestalt, bis heute. An den Opernhäusern von München und Amsterdam ist das Singspiel wieder neu zu sehen. Sind wir jetzt schlauer?

Opernwettlauf in München und Amsterdam: Zweimal Alban Bergs „Lulu“ innerhalb von acht Tagen! Und beide Male ungekürzt: Will sagen, mit drei kompletten (von Friedrich Cerha vollendeten) Akten, zwei Pausen, zusätzlichen Darstellern, zwei Orchesterdiensten und diesem öden, überflüssigen, alles nur aufhaltenden Paris-Bild am Anfang des dritten Aktes, den der Komponist selbst nicht mehr vollenden konnte. Wir sind zudem überzeugt: Er hätte auch im zweiten Teil noch einige Redundanzen weggesaugt.

Der Verlag gestattet inzwischen die Kürzung des aktuell in drei verschiedenen Fassungen und Orchestrierungen vorliegenden Finalaktes, womit auch eine Pause wegfiele, das Werk an Stringenz und Tempo ungemein gewönne. Warum nur sind Regisseure, Dirigenten und Theater so darauf aus, nach der zweiten Pause diverse leere Plätze zu verzeichnen? „Lulu“ ist immer noch, auch 78 Jahre nach der Zürcher Uraufführung des Zweiakters und 36 Jahre nach der Pariser Cerha-Ergänzung, kein leicht konsumierbares Werk.

München und Amsterdam also. Beides sind führende Opernhäuser in Europa. In Bayern freilich stand mit dem hochgeschätzten Kirill Petrenko ein „Lulu“-Debütant am Pult des Staatsorchesters, in den Niederlanden mit Lothar Zagrosek im Graben vor dem Concertgebouworkest einer der besten Kenner der Moderne. An der Münchner Staatsoper inszenierte mit dem russischen Star Dmitri Tcherniakov einer der wenigen, noch genuin als Operninszenator ausgebildeten Regisseure (zudem sein eigener Bühnenbildner), an der Nationaloper mit dem weltweit gefeierten bildenden Künstler William Kentridge ein eher visueller Vordenker. Und beide Musiktheater konnten traumsicher durch Höhen und Tiefen dieser komplexen Titelrolle wandelnde Protagonistinnen aufbieten: Marlis Petersen und Mojca Erdmann.

So ein Kopftheater!

Was also haben beide Häuser, jeweils aus der Sicht ihrer Kreativteams, zum „schönen, wilden Tier“, zur „Urgestalt des Weibes“ zu sagen, die „ward geschaffen, Unheil anzustiften,/ Zu locken, zu verführen, zu vergiften –/ Zu morden, ohne daß es einer spürt“? So jedenfalls führte ihr dramatischer Schöpfer Frank Wedekind im „Erdgeist“-Prolog von 1895 diese letzte Variation eines weiblichen Mythos ein.

Eines ist jedenfalls bemerkenswert: Marlis Petersen, bereits Peter Konwitschnys tolldreiste Hamburger Lulu von 2003, spielt und singt diese nicht nur in München in ihrer insgesamt neunten Premiere, sondern wird das so künstliche wie unauslöschliche Wesen auch im Herbst an der Metropolitan Opera New York in ihrer zehnten Produktion verkörpern – das wird dann die Übernahme der mit der English National Opera in London koproduzierten Kentridge-Version sein. Und die Petersen trägt dieses schwergewichtige Werk, trotz eines Bühnenunfalls samt Nasenbluten im zweiten Akt, wie eine Elfe auf schmalen, aber belastbaren Schultern. Grandios die Beiläufigkeit ihres Parlando-Tons. Blühend schön ihre immer noch strahlend leichte Höhe. Faszinierend ihre unangestrengte Bühnenpräsenz, ihr Frausein ohne jedes Weibchenklischee.

Wird sie doch von Dmitri Tcherniakov über die Maßen gefordert. Sie ist der Mittelpunkt eines extrem reduzierten Menschenexperiments. Ausgestellt in einem verkantet neongrellen, gläsernen Labyrinth aus Zimmern und Fluchten. An die Rampe gedrückt, wo außer ein paar nüchternen Stühlen nichts Atmosphärisches mehr ist, ja wo im dritten Akt jede Aktion erstarrt, fast nur noch Kopftheater sich ereignet.

Männer und Frauen passen einfach nicht zueinander: „Lulu“ an der Bayrischen Staatsoper
Männer und Frauen passen einfach nicht zueinander: „Lulu“ an der Bayrischen Staatsoper
Quelle: © Wilfried Hösl

Lulu wird dabei dauernd durch die transparenten Wände von hinten beobachtet und belauert von ihren Mitspielern wie von Statistenpaaren, die erst starr, dann immer wilder den Krieg der Geschlechter durchspielen, bis sie in Unterwäsche der Ermordung der Lulu zusehen – die diese selbst ausführt: Denn auch das Messer Jack the Rippers alias Doktor Schön, einziger Mann, den sie wohlmöglich je geliebt hat, jagt sie sich eigenmächtig zwischen die Rippen.

Tcherniakov macht die Geschichte klein und vergrößert gleichzeitig die Aura der Lulu. Und Marlis Petersen hält das so spielend wie spielerisch aus: mit strengem Knoten im roten Haar, ihre weißen Kostümierungen wechselnd wie die ihr von den verschiedenen Männern immer neu gegebenen Namen. Eine osmotisch funktionierende Projektionsfläche, die glaubhaft Gefühle vorgibt, die ihr nichts bedeuten, immer anders, stets schillernd, dauerhaft anziehend.

Doch neben der halten ihre Partner auf gleicher Höhe mit: Bereits der sonore Martin Winkler als widerwärtiger Tierbändiger des Prologs und später als Artist, der dämonische Bo Skovhus mit sämigem Bariton als Gewaltmensch Doktor Schön, Matthias Klink als sein tenorverquälter Komponistensohn Alwa, Daniela Sindram als lesbisch herbe, mezzogeschärfte Gräfin Geschwitz, Rainer Trost als durchdringend intensiver Maler und Neger samt dem übrigen, hervorragenden Ensemble.

Alle nur Statisten

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Doch irgendwann ist selbst in München die Spannung erschlafft, hat sich der Inszenierungsansatz erschöpft und trägt nicht die vollen vier Stunden. Obwohl einer enorm spannend bleibt: Kirill Petrenko, der Generalmusikdirektor, lässt es scheinbar ganz entspannt laufen und hat doch alle Staatsorchesterfäden in der Hand.

Das ist so klangschön wie subtil, wienerischer Rhythmus setzt sich durch und gibt dieser über weite Teile als Konversationsstück angelegten Monstertragödie samt Monsterpartitur eine lichte Ruhe und Zartheit. Das klingt mit all seinen Klingeln, Sirenen, Klavierriffs, Jazzsynkopen, Rummelplatzklirren immer kammermusikalisch zart, selbst in den dynamischen Ballungen etwa des filmischen Zwischenspiels im zweiten Akt.

Dieses lässt William Kentridge, der alles entworfen, aber die Ausführung anderen überlassen hat, in Amsterdam als Film ablaufen. Nur merkt man es kaum noch, weil bei ihm sowieso beständig belebte, sich bewegende Zeichnungen über die schrägen, dreidimensional gestaffelten, mit braunem Packpapier als Grundierung ausgeschlagenen und verschiebbaren Kulissenteile flimmern.

Komm in meine Arme, Mann! Mojca Erdmann als Lulu in Amsterdam
Komm in meine Arme, Mann! Mojca Erdmann als Lulu in Amsterdam
Quelle: De Nationale Opera/ Baus

Sein Grundeinfall, zu dem leider nichts mehr kommt: „Lulu“ als lebende Dada-Installation à la Ball oder Arp, wohl auch als Hommage an den Uraufführungsort, brav nacherzählt, ohne jede Psychologisierung. Sein getuschter Zeichenstil auf Zeitungspapier, die animierten Bildsequenzen, die freilich zwischen echten Art-decó-Möbeln nur verdoppeln, nichts Neues erzählen, collagiert dazu Reminiszenzen an seine Idole George Grosz und John Heartfield.

Das ist schnell kapiert, dann wird es in seiner glatten, bloß illustrativen Rückwärtsgewandtheit schon öde. Zudem trägt es weder Lothar Zagroseks behende, transparente, aber letztlich vom stetig schönspielenden Concertgebouworkest verweichlichte und verharmloste, letztlich als Begleitmusik zu einer überlangen Lichtspielszene dahinfließende Dirigierhaltung.

Die Sänger, begleitet von einem stummfilmhaft überflüssigen Paar Groteskakteuren, werden hier allzu oft zu Statisten in Kentridges Bühnenkino degradiert. Johan Reuter (Schön), Daniel Brenna (Alwa), Jenifer Larmore (Geschwitz), Franz Grundherber (Schiegolch) haben nicht die individuelle Präsenz und Vokalcharakterkraft ihrer Münchner Pendants.

Wer also ist Lulu?

Und auch Mojca Erdmann, ebenfalls meist in wenig verhüllendem Weiß mit schwarzbraunen Bubikopfstrubbeln, penetriert vor allem mit fast gepfiffenen Höhen. Die Stimme klingt so ausgebleicht und flach wie die Inszenierung ist, kommt in dem großen Haus nicht immer durch. Sie ist und bleibt ein Dada-Divanpüppchen, das sich meist großäugig auf dem Sofa räkelt, für eine Aura sinnlicher Verzückung vermag sie nicht zu sorgen.

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Interessant in beiden Produktionen auch die so wichtige Behandlung des Bildes der Lulu, das der Maler anfangs verfertigt. Während das Modell degeneriert, bleibt das Abbild fanalhaft immer gleich. In München ist es eine stets von Neuem begonnene Umrisszeichnung, ähnlich denen, welche die Lage von Mordopfern am Tatort markieren. In Amsterdam posiert Lulu zwar, aber ihr Porträt erscheint bühnenfüllend als projizierte Bilderfolge während der ganzen Oper, sie selbst trägt nur Schnipsel davon, einen Busen auf Papier, eine gemalte Scham, an ihrer Kleidung; während ihre Pappmaske weiterwandert, bis sie im Paris-Bild, hier ein großes Zwanzigerjahre-Happening, vervielfältigt wird.

Wer also ist Lulu? Das beantworten beide Inszenierungen nicht wirklich. In Amsterdam bleibt sie eine tote Erinnerungsreminiszenz aus der Theatergeschichte, in München eine – freilich bannende – Leerstelle, die alle vorgeführte Begehrlichkeit nicht füllen kann. Also muss der Opernbesucher weitersuchen.

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