Die fremde Vertraute

Innerhalb weniger Tage hatte In München und Amsterdam Alban Bergs Oper «Lulu» Premiere. Der Blick auf das Werk differierte erheblich – vor allem in der Zeichnung der provokanten Titelrolle.

Marco Frei
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Zwischen Femme fatale und Lolita: Lulu (hier: Mojca Erdmann) hat viele Gesichter. (Bild: Clärchen & Matthias Baus)

Zwischen Femme fatale und Lolita: Lulu (hier: Mojca Erdmann) hat viele Gesichter. (Bild: Clärchen & Matthias Baus)

Von Sigmund Freud ist bekannt, dass er auf manche psychologischen Zusammenhänge durch die Kunst gestossen ist. Offenbar muss auch die Oper «Lulu» von Alban Berg nach Tragödien von Frank Wedekind zu den Werken gerechnet werden, die weit in die Geschichte der Psychologie vorausschauten – so jedenfalls in der Inszenierung, die Dmitri Tcherniakov am Münchner Nationaltheater entwarf. Seine Lulu war weder «Vamp» noch «Femme fatale» – sie litt an «Borderline».

Lolita und Borderline

Diese Persönlichkeitsstörung wurde 1938 erstmals von dem amerikanischen Psychologen Adolph Stern skizziert, ein Jahr vor der postumen Uraufführung von Bergs «Lulu» in Zürich (in der zweiaktigen Fragment-Fassung). Erst viel später wurde die «Borderline-Störung» als Krankheit anerkannt. Zu den Symptomen zählen unberechenbare Gemütsschwankungen, ein impulsives Verhalten und gestörte zwischenmenschliche Beziehungen. Nähe und Distanz, Selbstverletzung und Fremdaggression wechseln sich abrupt ab, häufig wurden die Betroffenen sexuell missbraucht.

«Borderliner» sehnen sich nach Liebe und Geborgenheit, ohne Beziehungen von Dauer eingehen zu können. Nicht selten ist exzessiver Sexualverkehr die Folge, auch, um sich der eigenen Würde zu berauben; bei erfolgloser Behandlung droht Suizid. Dies passt vortrefflich zu Bergs Lulu, wie sie Tcherniakov in München zeigt. Schon in Bergs Vorlage wird deutlich, dass Lulu in jungen Jahren von Dr. Schön faktisch misshandelt wurde. Sie verführt wahllos Männer, ist bindungsunfähig, treibt sich und ihre Umgebung ins Verderben.

Deswegen ist es nur konsequent, dass Tcherniakovs Lulu irritierend kühl wirkt und keinerlei Mitleid erregt – obwohl sie von Marlis Petersen überragend gesungen und gespielt wird. Am Ende rammt sich Tcherniakovs Lulu selbst das Messer in den Leib (was in der Oper eigentlich Jack the Ripper erledigt). Mit seiner «Borderline-Lulu» entlarvt Tcherniakov die einstigen Konzepte der «Femme fatale» als sexistische Hirngespinste einer chauvinistischen Gesellschaft.

Debütant contra Routinier

Allerdings musste man sich durch ein sprödes Einheitsbild mühen. Zwar stand Tcherniakovs gläsernes Labyrinth für die innere Ödnis der Lulu, über weite Strecken aber ermüdete das statische Geschehen. Die Inszenierung profitierte ganz erheblich von einer durchwegs glänzenden Besetzung, neben Petersen zuerst Bo Skovhus als Dr. Schön und Daniela Sindram als lesbische Gräfin Geschwitz – die Einzige, die Lulu aufrichtig liebt.

Zudem entfachte die Leitung von Kirill Petrenko im Bayerischen Staatsorchester eine berauschend vielfarbige Expressivität. Im zweiten und dritten Akt erreichte der «Lulu»-Debütant Petrenko eine Sogwirkung, die man in der Regie vermisste. Nur im ersten Akt wirkten manche Details etwas diffus, hier hatte der «Lulu»-Routinier Lothar Zagrosek an der Nationaloper in Amsterdam mit dem Concertgebouw-Orchester eine glücklichere Hand. Ursprünglich hätte Fabio Luisi dirigieren sollen, aus familiären Gründen musste er absagen. Zagroseks Lulu wirkt fragil-luzider als Petrenkos, womit er eine klangliche Differenzierung kreiert, die im Kontrast zur bilderreich überladenen Inszenierung von William Kentridge steht.

Kentridge entwirft seine Lulu als gewöhnliche «Femme fatale», wobei das helle Timbre und das naiv-brave Spiel von Mojca Erdmann aus Lulu fast eine Lolita machen. Hier könnte Marlis Petersen zu ganz anderen Lösungen gelangen, wenn sie im Herbst, anstelle von Erdmann, bei den Aufführungen an der koproduzierenden New Yorker «Met» die Titelpartie gestalten wird. Allerdings dürfte sich am Frauenbild nichts ändern. Kentridges Lulu streckte ihre Beine in die Höhe, rollte die Strümpfe ab und auf – unterstützt von einer stummen Pianistin, die sich eifrig räkelte.

Obwohl Kentridge wieder einmal Zeichnungen und Videos einblendet, bleibt seine Regie konventionell. Wie auch die Requisiten atmen die übergrossen Zeichnungen und Stummfilme den Stil der Zeit Alban Bergs. In dieser Historisierung wird Bergs Oper «originalgetreu» nacherzählt. Selbst die finalen Todesschreie der Lulu kommen artig aus dem Off, und während in München die Gräfin Geschwitz über der Leiche Lulus zusammenbricht, darf in Amsterdam tatsächlich Jack the Ripper zustechen.

Fesselndes Hör-Theater

Kentridges Inszenierung war schön anzusehen, brachte aber keinen Erkenntnisgewinn. Auch die Besetzung reichte nicht ganz an München heran, obwohl Erdmann, die Geschwitz von Jennifer Larmore oder Franz Grundhebers Schigolch eigene Farben schenkten. Was vom Lulu-Doppel in München und Amsterdam vor allem in Erinnerung bleibt, ist fesselndes Hör-Theater. Die musikalischen Deutungen von Petrenko und Zagrosek muss man erlebt haben. Sie zählen, gerade in ihrer Gegensätzlichkeit, zum Überzeugendsten, was in der Interpretation dieses schwierigen Werks bisher geleistet wurde.