Diana lebt hier nicht mehr

Die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Arila Siegert inszeniert Christoph Willibald Glucks «Iphigenie auf Tauris» in Karlsruhe und findet eine eigene Sprache für das Flüchtlings- und Opferdrama.

Lotte Thaler
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Ausbruch aus dem archaischen Opfer-Zwang: Katharine Tier als Iphigenie in Karlsruhe. (Bild: Falk von Taubenberg)

Ausbruch aus dem archaischen Opfer-Zwang: Katharine Tier als Iphigenie in Karlsruhe. (Bild: Falk von Taubenberg)

Wo liegt eigentlich Tauris? Wahrscheinlich ist dieser antike Opern-Schauplatz identisch mit der heutigen Krim, die einst Chersonesus Taurica hiess und von Skythen bewohnt wurde. Ihr Herrscher Thoas (verkörpert von der Bariton-Sängerin Lucia Lukas) leidet unter Verfolgungswahn und opfert jeden Fremden, der seine Insel betritt, den Göttern. Die Priesterin Iphigenie (Katharina Tier mit entsprechend durchdringendem Mezzo-Sopran) ist zur Ausführung dieser Menschenopfer verdammt, will aber aus dem Kreislauf des Tötens ausbrechen.

Archaik und Moderne

Die Oper «Iphigenie auf Tauris» von Christoph Willibald Gluck schliesst zwar mit der befreiten Feststellung: «Ein tiefer Friede herrscht.» Doch wie viele Traumata bis dahin überwunden werden müssen, wie viele Erinnerungen bewältigt, wie viel Selbsterkenntnis dazu notwendig wird – davon erzählt Glucks Oper in Karlsruhe mit frappierender Aktualität. Hinzu tritt eine dramatisch komprimierte Musik unter der animierenden und alle emotionalen Verstrickungen aufdeckenden Leitung von Christoph Gedschold.

Die Regisseurin Arila Siegert verbindet in ihrer Inszenierung Archaik und Moderne mit ebenso behutsamer wie psychologisch fundierter Personenführung, wobei der Opernchor als Priesterinnen, Krieger und Eumeniden in seinen choreografierten Aktionen im Liegen, Stehen und Gehen besonders gefordert war. Arila Siegert hat sich ihre eigene, unverkennbare Theatersprache mit individuellen Chiffren für das Dargestellte erschaffen.

Diese erfrischende Unabhängigkeit von allen Theater-Moden lernte sie schon als Kind bei der Tänzerin Gret Palucca, in deren Schule in Dresden sie mit sechs Jahren aufgenommen wurde. Was diese Schule vermittelte, lässt sich jetzt in einem mit vielen attraktiven Fotos ausgestatteten Band über die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Siegert nachlesen, den Regine Hermann im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin, herausgegeben hat: den «Geschmack und den Willen, etwas Eigenes zu finden, unverwechselbar, nicht angepasst oder abgeguckt».

In Karlsruhe verzichtet Siegert auf alle naheliegende Blutrünstigkeit und verlegt den tragischen Ausdruck vor allem in die Protagonisten selbst und ihre unmittelbar sinnfällige Körpersprache: Wenn sich etwa Iphigenie in ihrem Traum an ihre Familie erinnert, geht sie in sich selbst versunken ein paar Schritte rückwärts, bis sie hart an eine Wand stösst und so wieder auf dem Boden der Realität landet. Zudem schafft Siegert über den abstrakt gehaltenen Bühnenraum aus groben Tempelmauern (Bühnenbild: Thilo Reuther) weitere Assoziationsräume, mit durchaus rituellem Hintergrund wie asiatische Stockspiele für die skythischen Krieger oder auch mit Bild-Allusionen an Michelangelo für die Freundschaft zwischen Orest (wunderbar «abgerissen» in seinem Wahn: Armin Kolarczyk) und Pylades (der einzige Tenor der Oper auch als menschliche Lichtgestalt: Steven Ebel). Ferner bildet ein über die gesamte Bühnenbreite ausgerolltes weisses Leichentuch ein weiteres charakteristisches Stilmittel von Siegerts Bühnenarbeiten.

Weltliche Friedensstifterin

In Karlsruhe durchsetzen zwei Abweichungen den «werktreuen» Ansatz Siegerts bei Gluck: Die Göttin Diana, die Iphigenie im ersten Akt noch herzerweichend um Hilfe anfleht, existiert nicht mehr. Nicht die Göttin stoppt den Kreislauf des Tötens, sondern der Mensch Iphigenie selbst in endlich errungener Selbstbestimmung: als weltliche Friedensstifterin hüllt sich Iphigenie königlich in Dianas Gold-Gewand. Die zweite Abweichung ist theaterpolitisch motiviert. Die vielen Gestrandeten, die hier an Tauris' Küste gespült werden und sich in ihren Alltags-Klamotten unter den Chor mischen, sind auch im echten Leben Flüchtlinge aus Afrika und den arabischen Krisenländern. Auch sie haben sich vielleicht mit Arila Siegert gefragt: «Wer sind wir, wozu sind wir fähig?» Und man kann nur hoffen, dass sie, wie Siegert, eine Antwort in der Kunst gefunden haben.

Regine Herrmann (Hg.): Arila Siegert. Tänzerin Choreografin Regisseurin. Akademie der Künste, Berlin 2014. 240 S., Fr. 31.90.