In der Vergangenheit hat sich Sylvain Cambreling als ein aufregender Verdi-Versteher präsentiert, allerdings weniger in Stuttgart. Umso erfreulicher und kühner ist die jetzige Neuproduktion von Verdis „Rigoletto“: Sie zählt zum Stärksten, was man zu dieser Oper bislang gesehen und gehört hat. Das beginnt schon mit dem Dirigenten.
Statt die Italianità auf eine ermüdende Aneinanderreihung von Humtata-Klischees zu beschränken, mit plump schmetternden Aufmärschen, lauscht Cambreling tief hinein in die Farbenpracht und den subtil grotesken Humor der Partitur – wohltuend differenziert und glasklar artikuliert, stets mit zupackender Verve; wobei sich der dritte Akt zum Hörkrimi allererster Güte steigert.
Cambrelings Verdi ist ein Befreiungsschlag, was sich in der Regie des Stuttgarter Opernintendanten Jossi Wieler und
fortsetzt. Für ihre Inszenierung konfrontieren die beiden die Oper „Rigoletto“ mit der Vorlage von Victor Hugo – dem Versdrama „Le roi s’amuse“ von 1832.
Ein Regent, der sich unsittlich vergnügt
Mit Hugo hat Verdi gemein, dass es wegen des Stoffes Probleme mit der Zensur gab. Ein Regent, der sich unsittlich und auf Kosten seiner Untertanen vergnügt: Das ging zu weit. Doch während Verdi seine Oper anpasste, änderte Hugo nichts. Sein Versdrama blieb fünfzig Jahre lang verboten. Bei Hugo wirkt manches wesentlich härter, was die Stuttgarter Inszenierung aufgreift. Noch dazu spielt Verdis „Rigoletto“ nicht in Mantua, sondern in Hugos Paris.
Hier vergnügt sich der „König“; wobei sich die Frage stellt, wer eigentlich regiert – der Herzog (strahlend: Atalla Ayan) oder der Hofnarr Rigoletto (großartig: Markus Marquardt). Wieler und Morabito zeichnen diesen als Revoluzzer, der in einem schäbigen Hinterhof illegal eine Druckerei betreibt. Hier werden Flugblätter verbreitet, in den Farben der Trikolore. Auch seine Tochter Gilda (überragend: Ana Durlovski) hält Rigoletto hier versteckt. Mit seiner Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hat er sie angesteckt. Eine Dartscheibe baumelt an der Tür, im Zentrum prangt „Le Roi“. Auf einer Mauer ist „Viva Verdi!“ zu lesen: In Italien war Verdi bekanntlich eine Leitfigur der italienischen Einheitsbewegung.
Doch der „edle Revolutionär“ Rigoletto begeht dieselben widerwärtigen Verbrechen, gegen die er eigentlich aufbegehrt. Bei Wieler und Morabito vergewaltigt er sogar die Tochter des Grafen Monterone, die als stumme Rolle umhergeistert. Die Verfluchung durch ihren Vater (einnehmend: Roland Bracht) hat Rigoletto hier ganz und gar verdient. In dieser Welt gibt es kein Gut und Böse. Alle missbrauchen ihre Macht und machen sich schuldig. Und während die schöne Fassade eines degenerierten Systems jäh zusammenbricht, dreht sich die Bühne und legt den Blick frei auf die kahlen Rückwände der Kulissen – ein starkes Bild.
Ein handfester Vater-Tochter-Konflikt
Denn auch die hehren Prinzipien der Revolutionäre taugen nichts, weil sie von ihnen selbst verraten werden. Die Revolution frisst ihre Opernkinder, auch deswegen mutiert das Verhältnis zwischen Rigoletto und Gilda bald zu einem handfesten Vater-Tochter-Konflikt. Das endet tödlich, weil der Revoluzzer-Narr ideologisch verblendet ist. Helden gibt es hier nicht, sondern nur Antihelden. Sie sind nicht sympathisch, sondern abstoßend. Darin gehen Wieler und Morabito weit über Verdi und Hugo hinaus.
Victor Hugos buckliger Narr hat nämlich sehr viel von dessen Quasimodo. Beide vereinen äußere Hässlichkeit mit hochherzigen Gefühlen, in Stuttgart aber bleibt dieser Narr verstörend indifferent – weil Hugo konsequent weitergedacht wird. Als demokratischer Systemkritiker fürchtete Hugo um die Ideale der Revolution. Nach den Abgründen des 20. Jahrhunderts, wo „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ mit Totalitarismen unterschiedlicher Art verwechselt wurden, klafft beklemmende Gewissheit. Diese Inszenierung entlarvt die Geschichte als abgründiges Kontinuum.