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Bühne und Konzert Bregenzer Festspiele

„Schluss mit dem schwulen Scheiß!“

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Die Boys sind Mädels und die Girls Jungs: Am Ende wird der ganze Spaß per Videomorphing von Gustave Courbets schamhaarschwarzem „Ursprung der Welt“ aufgesogen Die Boys sind Mädels und die Girls Jungs: Am Ende wird der ganze Spaß per Videomorphing von Gustave Courbets schamhaarschwarzem „Ursprung der Welt“ aufgesogen
Die Boys sind Mädels und die Girls Jungs: Am Ende wird der ganze Spaß per Videomorphing von Gustave Courbets schamhaarschwarzem „Ursprung der Welt“ aufgesogen
Quelle: Bregenzer Festspiele/ Karl Forster
Eine Provokation, die in Wahrheit gar keine ist: Stefan Herheim inszeniert Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ bei den Bregenzer Festspielen als Schaustück über den Genderdiskurs.

Da läuft etwas total schief. Dabei stehen die Boys in Frack und Zylinder auf der Treppe, die Girls in ihren seidigen Korsagen ebenso. Sie besingen die schönen, hochprozentigen Träume im Geist des Weines. Die Vorhänge wallen im Revuewind, Scheinwerfersterne funkeln. Aber Stella, der Star, der jetzt in diesem Bühnentraum eines Musicals singend, blond und im Glitzerfummel die Stufen herabschreiten soll, ist besoffen, kreischt, fällt metertief. Die Perücke ist weg, da liegt ja ein Kerl! Ein Stuntman namens Pelle Karlsson. Auch die Boys sind Mädels und die Girls Jungs. Dann kommt eine Tussi, sagt, sie sei die Muse und will jetzt auch kesser Vater werden. „Schluss mit dem schwulen Scheiß!“, schreit ein erboster Zuschauer und entert die Bühne.

Nein, kein neuer Festspielskandal, das würde zum beschaulichen Bregenz auch nicht wirklich passen. Das ist nur erst der Anfang des kleinen Regiecomebacks von Stefan Herheim, der sich auf dem internationalen Höhenflug seiner Regiekarriere seit Oktober 2013 eine Kreativpause gegönnt hat. Und jetzt mit neuem Dramaturgen (Olaf A. Schmitt), neuem Bühnenbildner (Christoph Hetzer) und neuer Kostümfrau (Esther Bialas) wieder da ist. Außerdem mit seinem Lieblingsstück, dem so genialen wie schillernd doppelbödigen Torso „Hoffmanns Erzählungen“, über dessen Vollendung Jacques Offenbach 1880 starb.

In Bregenz freilich ist er wieder lebendig, da scharwenzelt, schnäuzt und flötet er (fuß- wie stimmflink: Christoph Mortagne) herum, streicht das unsichtbare Cello, dirigiert und steuert als Charon-Gondoliere eine Totenbarke durch ein Venedig aus Särgen. Bis er am Ende per Video in den Himmel flattert. Ihm nämlich, dem Schöpfer dieser Figuren und Melodien, gebührt die Finalapotheose, Hoffmann hat sich da längst schon aus dem Stück gemordet.

Herheims Ästhetik wirkt jetzt derber und dunkler

Ein wenig abgespeckter gibt sich der neue Herheim in seiner Ästhetik, auch derber und dunkler. Aber wieder spielt er auf mehreren Seins- und Deutungsebenen zugleich. Das ist ein Freudenfest für den Kenner, aber auch der Ignorant dürfte seinen Spaß haben. Weil dieser Regisseur ein Theatertier ist, seine Freude an der Verkleidung und dem intellektuellen Rätsel hat. Der aber doch diesmal ganz aktuell ist.

„Les Contes d’ Hoffmann“ als Lehr- und Schaustück über Geschlechteridentität und Genderdiskurs. Wenn sich ein zur Frau gewordener Bruce Jenner im Madonna-Korsett von Annie Leibowitz für das „Vanity Fair“-Cover photoshoppen lassen kann, dann darf auch die Oper fragen, wie es denn um die Frauenansichten von Mannsbildern steht, wer welche Seite von sich entdeckt und ob die nicht doch alle Klischees sind. Bis sie per Videomorphing von Gustave Courbets monströs schamhaarschwarzem „Ursprung der Welt“ aufgesogen werden.

„Leuchte, Diamant“, singt der wunderbare Michael Volle als jener spaßverderbende Opernbesucher, der jetzt doch alle Bösewichter spielen muss. Er tut das mit Lust, und zu seinem lupenreinen Falsett-Gis zieht er den immer wieder gebrauchten Glitzerfummel aus dem Cellokasten, der blau schillert wie das Kanalwasser der Lagunenstadt.

Die Kritiker wählten ihn schon dreimal zum Regisseur des Jahres: Der Norweger Stefan Herheim gibt der Oper ständig neue Impulse
Die Kritiker wählten ihn schon dreimal zum Regisseur des Jahres: Der Norweger Stefan Herheim gibt der Oper ständig neue Impulse
Quelle: picture-alliance / BARBARA GINDL

Bis dahin war es ein weiter, facettenreich immer fragmentarischer werdender, vielfach die vierte Wand durchbrechender Inszenierungsweg. Auf, über und unter kreiselnden schwarzen Showtreppen, wo Schauplätze fließend wechseln, aber eigentlich immer die gleichen sind. Weil sich alles im Kreise dreht, wir immer tiefer eingeklemmt werden in das Bedeutungsgewinde dieser eben nicht nur „fantastischen“, sondern auch surrealen, bedrohlichen Oper, deren größer werdendes Einzelteilepuzzle längst schon als angeschwollener Bedeutungsbrei aufgeht.

Herheim lässt dem die Luft raus, streicht weg, pumpt ab. Übrig bleibt die Geschichte von vielerlei Illusionen. Die von der Puppe, die gar keine ist, sondern die orgasmusgeile Replikantin Olympia. Sie zeigt mit der famosen Stimme von Kerstin Avemo Gefühlsstakkati, wo die echten Menschen nur zucken und die Beine in die Luft strecken. Und die Geschichte von Antonia (sopranhandfest: Mandy Frederich), die sich zu Tode singt, das aber mit einem spektakulären Abgang. Hoffmann (mit erstaunlichen, flexiblen Tenorreserven: Daniel Johansson), auch er ein Double unter lauter Gleichen, nur ein wenig lotteriger, nicht klarsichtiger, sucht sowieso nur Stella. Die lässt Herheim immer wieder durchs Bild trampeln bis zu ihrer endgültigen Niederlage als gefallener Stern. Auch die Muse (mezzobeweglich: Rachel Frenkel) beansprucht den Dichter vorwiegend für ihr Gute-Taten-Konto.

Dafür wird die Kurtisane Giulietta überhaupt nicht mehr gebraucht. Es ist alles schon erzählt, die Venedig-Episode erstickt im Übrigen an ihrem real fragmentarischen Charakter. Was ist Schein, was Sein? Keiner blickt mehr durch, aber es macht Spaß. Auch weil die Wiener Symphoniker unter Johannes Debus einen schlanken, espritvollen, rhythmisch moussierenden, immer substanziellen Comique-Klang hinbekommen. Und aus „Hoffmanns Erzählungen“ unversehens, aber legitim „Herheims Erzählungen“ geworden sind.

Termine: 26. und 30. Juli, 3. und 8. August 2015

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