Der nutzlose Liebestrank

Die 104. Richard-Wagner-Festspiele eröffnen mit einer Neuproduktion von «Tristan und Isolde». Festspielwürdiger als die Inszenierung ist das neue Wagner-Museum in der Komponistenvilla Wahnfried.

Christian Wildhagen
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Ein Treppen-Labyrinth bei Katharina Wagners «Tristan». (Bild: Enrico Nawrath)

Ein Treppen-Labyrinth bei Katharina Wagners «Tristan». (Bild: Enrico Nawrath)

Richard Wagners Musikdrama «Tristan und Isolde» ist ein unmögliches Kunstwerk. Je tiefer man eindringt, desto unheimlicher werden die Dimensionen dieses Werks, das Friedrich Nietzsche treffend ein «Opus metaphysicum» nannte. Die äussere Handlung? Ein Nichts, ausgebreitet in viereinhalb Stunden, und strenggenommen doch nicht mehr als die auf der Opernbühne sattsam bekannte Dreieckskonstellation. Die inneren Spielräume dieses Seelendramas um eine unstatthafte Liebe jedoch – sie haben es in sich, hier geht es wortwörtlich um Leben und Tod. Wie aber bringt man die Erschütterungen von Eros und Thanatos glaubhaft auf die Bühne?

Abstrakte Gedankenräume

Bei den Bayreuther Festspielen, die am Samstag mit einer Neuinszenierung des «Tristan» eröffnet wurden, gibt es eine jahrzehntealte Tradition, das Werk in abstrakte Gedankenräume zu verpflanzen, wohl um jeden Anhauch von naturalistischer Banalisierung und schnöden Realismus zu vermeiden. Heiner Müllers radikal solipsistische Darstellung einer scheiternden Kommunikation machte 1993 den Anfang, Christoph Marthaler folgte 2005 mit den beklemmenden Innenräumen eines sinkenden Schiffs auf Jenseits-Kurs. Festspielchefin Katharina Wagner wollte in ihrer zweiten Bayreuther Inszenierung, ganze acht Jahre nach ihrem handwerklich holprigen, aber durchaus mutigen Debüt mit den «Meistersingern», nicht alles anders machen, geschweige denn mit der Tradition dieser «metaphysischen» Deutung brechen. Obschon es gegenläufige Versuche gegeben hat – beispielsweise den einer vertiefenden autobiografischen Lesart, die auf Wagners Leben und seine unerfüllte Liebe zu Mathilde Wesendonck im Zürcher Asyl rekurriert –, sucht auch Katharina Wagner ihr Heil im Übertragenen, Zeitlos-Abstrakten, gewürzt allerdings mit ein paar provozierend realistischen Handlungsdetails.

Der erste Aufzug führt im Bühnenbild von Frank Philip Schlössmann in eine moderne Version der «Carceri d'Invenzione» von Piranesi: ein Treppenlabyrinth, in dem die beiden Liebenden buchstäblich nicht zueinanderkommen können. Immer fährt irgendeine Treppe im letzten Augenblick um ein paar Etagen noch oben oder unten, dann steht man sich plötzlich gegenüber und wagt doch nicht den letzten Schritt. Das ist schön erdacht und fraglos technisch sehr aufwendig, erschöpft sich in seiner Aussagekraft aber recht schnell. Zumal Tristan und Isolde, wenn der Vorreden genug gehalten sind und es endlich zur Sache geht, doch sehr handfest miteinander umspringen.

Da setzt sie ihm schon einmal das Messer an die gefährdete Kehle; er wiederum ist alles andere als zimperlich bei seinen anfangs noch energischen Versuchen, ihre immer offener zur Schau gestellte Leidenschaft für ihn, den Brautwerber, und die daraus leicht absehbaren Schäden für Heldentum und Königsehre abzuwehren. Doch es hilft alles nichts: Die Liebe auf den ersten Blick ist stärker als alle moralischen Schranken des Sittengesetzes – das wissen die beiden auch ohne bewusstseinserweiternden Liebestrank. Der klatscht folglich ungenutzt auf den Boden der zwischen den Treppentürmen hochgefahrenen Hubbrücke. Dies mag plakativ wirken, ist aber nichts anderes als eine konsequente Umsetzung der Erkenntnis Thomas Manns, wonach die beiden Liebenden, im ahnungsvollen Wissen um ihre Bestimmung füreinander, statt der elenden Requisitensäfte auch einfach «Wasser» trinken könnten.

Tristan und Isolde in der Diktatur

Katharina Wagner behält die eigenwillige Mischung von gleichnishafter Szenerie und bisweilen drastisch-plakativer Aktion in den folgenden Akten bei. König Markes Reich ist eine nur scheinbar von Milde regierte Diktatur, Tristan und Isolde werden samt Diener-Anhang in einen dreieckigen Gefängnishof mit schwarzen Wänden eingekerkert und haben von Anfang an keine Chance, ihre Liebe geheim zu halten. Denn sie stehen unter fortwährender Bewachung durch giftig gelbgrün gewandete Schergen mit Macht über die Beleuchtungsanlage. Wagners erzromantische Tag-Nacht-Dichotomie, das böse Licht, das den Verheissungen der Nacht entgegensteht, ist hier tatsächlich nicht mehr als ein erbarmungslos auf- und abblendender Scheinwerfer.

Auch König Marke, wunderbar sonor, aber nicht salbungsvoll gesungen von Georg Zeppenfeld, ist hier keineswegs der grossherzig verzeihende Dritte, sondern ein tödlich in seinem Herrscherstolz getroffener Mann. Nur kurz fällt er bei seinem Ausbruch «Warum mir diese Hölle?» aus der Rolle und zeigt menschliche Züge; dann lässt er die Handlanger um Melot (Raimund Nolte) kühl das Übrige besorgen. Tristan wird vorsätzlich hinterrücks gemeuchelt – sein Siechtum im dritten Aufzug ist gleichsam die ins Unendliche gedehnte Sekunde zwischen Sterben und Tod, in der in emblematischen Dreiecksbildern noch einmal der Lebensfilm des gefallenen Helden vorüberzieht. Isolde kommt in jeder Hinsicht zu spät: Sie darf zwar noch ihren «Liebestod» beschwören, aber Marke denkt nicht daran, die «Leichen zu segnen» (wie es in Wagners Regieanweisung versöhnlich heisst); er zerrt Isolde wie eine böse Spinne tiefer in sein schwarzes Verlies.

Leider hatte Katharina Wagner nicht den Mut, sich für diese überspitzte, aber im Prätentiösen durchaus profilierte Sicht auf das Jahrhundertwerk ihres Urgrossvaters dem Urteil des Publikums zu stellen. Sie erschien nur einmal kurz mit ihrem Produktionsteam im Bühnenhintergrund, verdeckt von Statisten – eine merkwürdige «Ich war es nicht!»-Verzagtheit, die unter ihrer Ägide typisch geworden ist für die Festspiele. So heimste vor allem der frisch bestallte «Musikdirektor» der Festspiele, Christian Thielemann, den Beifall ein. Und das zu Recht. Thielemanns «Tristan»-Deutung hat sich seit seinen frühen Hamburger und Berliner Dirigaten in den neunziger Jahren entscheidend weiterentwickelt: Die Tempi sind, namentlich im ersten Akt, ungemein fliessend geworden, auch die Agogik wirkt organischer; der hörbar bis in feinste Details durchgearbeitete Orchesterpart klingt trotz der im Bayreuther Graben notwendigen dynamischen Akzentuierung luzide, warm und ungewöhnlich transparent.

Thielemanns Qualitäten als Sänger-Begleiter kommen allen Protagonisten zugute: der anfangs etwas scharfen, in den Weckrufen des zweiten Aktes aber wie von aller Erdenschwere losgelöst tönenden Brangäne von Christa Mayer ebenso wie dem mit Iain Paterson eher schlankstimmig besetzten Kurwenal; besonders aber dem Tristan von Stephen Gould, der nicht einmal in den Fieber-Ekstasen des dritten Aufzugs forcieren muss. Diese Kontrolliertheit ist freilich auch das Manko von Goulds solider Rollengestaltung: Man nimmt ihm weder die existenzielle Erschütterung durch die Liebe noch die Todestrunkenheit wirklich ab. Viel problematischer ist die Isolde von Evelyn Herlitzius, die nach den mehr oder weniger freiwilligen Abgängen von zwei Vorgängerinnen erst kurz vor der Premiere in die Produktion eingetreten war. Herlitzius reüssiert international als Elektra – über die Isolde ist sie aus der Warte des hochdramatischen Fachs längst hinaus. Der sehr wohl erkennbare Wille zur dynamischen Differenzierung stösst immer wieder an technische Grenzen, die Stimme klingt matt, manchmal unangenehm scharf. Ihrer darstellerischen Intensität, die Herlitzius über weite Strecken zum emotionalen Zentrum der Aufführung macht, tut dies keinen Abbruch.

Das neue Wagner-Museum

Am Tag nach der «Tristan»-Premiere erlebte Bayreuth eine weitere festspielwürdige Premiere: Nach fünf Jahren Bauzeit wurde endlich das neue Wagner-Museum der Öffentlichkeit übergeben, einschliesslich der von Grund auf renovierten Villa des Komponisten, Haus Wahnfried. Eigentlich hatte man schon im Wagner-Gedenkjahr 2013 fertig sein wollen, und teurer ist die Umgestaltung von Wagners ehemaligem Wohnsitz auch geworden – gut zwanzig Millionen Euro haben die Sanierung und die Errichtung eines Neubaus an der rechten Gartenseite durch das Berliner Architekturbüro Staab gekostet. Musste man sich freilich angesichts des eskalierenden Streits um Konzepte und Kosten des Projekts lange Zeit Sorgen machen, dass das Ergebnis am Ende doch wieder nur ein provinzielles Klein-Klein – und somit keinerlei Verbesserung gegenüber dem seit Jahren unhaltbaren Status quo von 1976 – bringen würde, so kann man nun, nach einem ersten Rundgang, erleichtert feststellen: Die gefundene Lösung ist alles andere als provinziell, sie übertrifft sogar die Erwartungen.

Zwar hat man die Chance nicht genutzt, das Wahnfried-Areal zusammen mit den benachbarten Ausstellungen über Franz Liszt und Jean Paul sowie dem ehemaligen Chamberlain-Haus zu einem grossen Museumskomplex zu vereinigen, der die Kulturgeschichte Bayreuths, die eben doch mehr ist als Wagner, in mustergültiger Weise abgebildet hätte. Die Konzentration auf Wahnfried hat aber auch Vorteile: Der Fokus auf Wagner und seine Nachwirkungen bleibt scharf, wird nicht durch synoptische Darstellungen oder womöglich relativierende Einordnungen in historische Kontexte salvierend gemildert. So erscheint Wagner wirklich als ein Zentralgestirn des 19. Jahrhunderts, das dessen geistige Strömungen in aller Grösse und Problematik repräsentiert.

Neben der biografischen Darstellung, die mit einer Vielzahl an authentischen Materialien und originalen Möbeln in Wahnfried Platz gefunden hat, bietet der Neubau, der sich überraschend harmonisch in das gewachsene Ensemble fügt, Raum für Sonderausstellungen und eine Dokumentation der Festspielgeschichte – bis in die Gegenwart. Der brisanteste Bereich des neuen Museumskomplexes ist freilich das ebenfalls renovierte Siegfried-Wagner-Haus: Im jetzt erstmals vollständig zugänglichen Erdgeschoss befinden sich die Zimmertrakte, in denen Adolf Hitler während seiner Bayreuth-Besuche zwischen 1936 und 1940 wohnte.

Beispielhafte Transparenz

Dass der vollständig im Stil der dreissiger Jahre möblierte Speisesaal künftig zu einem dubiosen Kult-Ort für alte und neue Unbelehrbare werden könnte, befürchtet Sven Friedrich, der Leiter und federführende Kurator des Museums, nicht. Für ihn hilft in Sachen Wagner nur die grösstmögliche Offenheit, auch und gerade bei den schwärzesten Kapiteln der Wagner-Rezeption. Diese Linie hat er gegen alle Einmischungsversuche überzeugend durchgehalten. Endlich gibt es, anders als im früheren Wahnfried-Museum, keine peinlichen weissen (oder braunen) Flecken mehr in der Dokumentation; nicht nur, was Wagners bis zu den Quellen zurückverfolgten Antisemitismus betrifft, sondern auch die nicht weniger bedenkliche Rolle, die Wagners Nachfahren teilweise bis weit über 1945 hinaus politisch spielten. Weder Winifred Wagner noch die Komponistenenkel Wieland und Wolfgang werden davon in den erfreulich klaren und substanzreichen Kommentartexten ausgenommen. Die Festspielleitung auf dem nahen Grünen Hügel, aber auch die Vertreter der Familie, die noch immer Nachlässe unter Verschluss halten, sollten sich ein Beispiel nehmen an der hier erreichten Transparenz.