Ein Schreckensbild unserer Zeit

Für Jossi Wielers «Fidelio»-Inszenierung hat der Bühnenbildner Bert Neumann seine letzte Arbeit im Musiktheater entworfen. Eine Produktion, die den brennend aktuellen Fragen des Werks nicht ausweicht.

Marco Frei
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«Euch werde Lohn in besser'n Welten»: Florestan (Michael König, rechts) mit Biedermann Rocco (Roland Bracht). (Bild: A.T. Schaefer)

«Euch werde Lohn in besser'n Welten»: Florestan (Michael König, rechts) mit Biedermann Rocco (Roland Bracht). (Bild: A.T. Schaefer)

In der Kunst ist das Scheitern nicht nur erlaubt, sondern oft erst die Voraussetzung für eine kulturelle Weiterentwicklung. Dennoch ist es staunenswert, dass sich die meisten Regisseure mit der Oper «Fidelio» von Ludwig van Beethoven so schwertun. Vor dem Hintergrund der Terrorherrschaft der Jakobiner während der Französischen Revolution geht es nämlich um die ganz grossen, universellen Themen – das Subjekt im Kollektiv, Macht und Machtmissbrauch, Recht und Willkür, Autoritarismus und geistige Integrität. Über allem thront ein unerschütterlicher Idealismus, der Glaube zumal an Liebe und Freiheit.

Dialektik der Aufklärung

Es bleibt kurios, dass sich selbst ein «sozialkritischer Provokateur» wie Calixto Bieito 2010 mit seinem Münchner «Fidelio» gehörig verhoben hat. Umso bemerkenswerter ist die Neuinszenierung an der Stuttgarter Oper – weil sich das Regieteam um Jossi Wieler und seinen Dramaturgen Sergio Morabito ernsthaft bemüht hat, die grossen Themen in ihrer ganzen Komplexität auf das Heute zu übertragen. Ihr «Fidelio» spielt in einem riesigen Überwachungsraum, den noch Bert Neumann, der im Sommer verstorbene Bühnenbildner der Berliner Volksbühne, entworfen hat: beklemmend unterkühlt und aseptisch. Dieser Ansatz ist nicht neu – Matthias Hartmann griff erst kürzlich in Genf zu vergleichbaren Mitteln; allerdings wurde er selten derart facettenreich durchgeführt wie jetzt in Stuttgart.

Vom Theaterhimmel baumeln Mikrofone herab, jedes Wort wird aufgezeichnet. Das verraten selbst die Übertitel, die etwas zeitversetzt eingeblendet werden und dabei wie von fremder Lauscher-Hand abgetippt wirken. Wo dieses «Mitschreiben» konkret geschieht, zeigt sich am Ende der Oper, wenn sich die grosse «Blackbox» in der Bühnenmitte öffnet: Eine Abhörzentrale wird sichtbar, vorsichtshalber mit Aktenvernichtern ausgestattet, um Spuren beseitigen zu können – falls sich die «politischen Zustände» ändern.

Das alles erinnert nicht nur an die Erstürmung der Stasi-Zentrale in Ostberlin während der Wendejahre 1989/90, sondern – noch ungleich aktueller – auch an das paranoide Datensammeln westlicher Geheimdienste in unserer Zeit. «Wir sind belauscht mit Ohr und Blick», singt der Chor der Gefangenen im «Fidelio» – die Aktualität dieser Worte ist erschreckend. In diese Wunde legen Wieler und Morabito den Finger, ohne einem plumpen Schwarz-Weiss-Denken zu verfallen. Dies offenbart die recht komplexe Behandlung des Chores. Schon die Kostüme von Nina von Mechow präsentieren ihn als «entindividualisiertes» Kollektiv, mit Masken und uniformer Kleidung, die eine klare Teilung in Opfer und Täter unmöglich machen. Oft marschiert der Chor überdies monoton über die Bühne, gläsern und ferngesteuert.

Eine Masse Mensch wird da gezeigt, nicht zufällig an Internetnutzer erinnernd, die in «sozialen Netzwerken» willfährig ihre persönlichen Daten preisgibt und sich selbst entmündigt – Marionetten des Marktes und der Macht. Diese «Dialektik der Aufklärung» konnte Beethoven freilich nicht voraussehen. Wie sehr sich die Grenzen zwischen Opfern und Tätern aufweichen, verrät in Stuttgart auch der Kerkermeister Rocco (Roland Bracht). Zwar unterstützt er Fidelio alias Leonore (Rebecca von Lipinski) im Kampf gegen den tyrannischen Gefängnisdirektor Pizarro (Michael Ebbecke) und bei der Befreiung Florestans (Michael König); am Ende aber schreddert Rocco die Akten in der Abhörzentrale. Zuvor hatte der Minister Don Fernando (Ronan Collett) Leonore eine Fernbedienung überreicht, um die «Blackbox» zu öffnen. Bei alledem profitierte die Regie von den Solisten, die im Timbre der Stimmen die jeweiligen Charaktere glaubhaft hörbar machten.

So klang Rocco ähnlich undurchsichtig, wie er sich in dieser Inszenierung gerierte. Hier schlummerte zugleich ein Konflikt zwischen ihm und seiner Tochter Marzelline, die Josefin Feiler anfangs recht naiv, doch bald schon herausfordernder gestaltete. Und während sich Michael Königs Florestan schwach und gebrochen gab, machte Lipinski auch stimmlich deutlich, dass sie als Leonore die Strippen zieht. Leider wurde diese stimmliche Personenführung nicht auf die Dialoge übertragen.

Textproblem und Hörtheater

Es ist fraglos löblich, dass Wieler und Morabito nicht, wie so häufig, die Dialoge zusammengekürzt oder ganz gestrichen haben; sie betonen damit die Verankerung des «Fidelio» in der Tradition des deutschen Singspiels. Freilich sind auch sie an den Texten gescheitert. Über weite Strecken zerstört der sterile Vortrag den musikalischen Fluss, obwohl Sylvain Cambreling mit dem Stuttgarter Staatsorchester und dem Opernchor ein Hörtheater allererster Güte entwarf. Nur selten erlebt man Beethovens Partitur derart klar artikuliert und schlank phrasiert – mit klug differenziertem Vibrato-Einsatz. Dieser «Fidelio» klingt noch lange nach.