München
Psychogramm einer Wahnsinnigen

Jubel für Barrie Koskys schrille Version der Prokofjew-Oper "Feuriger Engel" an der Bayerischen Staatsoper

30.11.2015 | Stand 02.12.2020, 20:29 Uhr

Irre vor Schmerz: Svetlana Sozdateleva gibt dem Wahn ihrer Renata ein Gesicht und Stimme. - Foto: Hösl

München (DK) Sergej Prokofjews teilweise im oberbayerischen Kloster Ettal entstandenes, gut zweistündiges Musikdrama führt am Beispiel Renatas vor, wie im 16. Jahrhundert die mädchenhafte Wahnfixierung auf die Erscheinung eines „feurigen Engels“ zu sexuellem Missbrauch durch einen Adeligen, darauf folgender Flucht ins Kloster und zuletzt (durch die ebenfalls wahnhaft fixierte Inquisition) auf den Scheiterhaufen führt.

Der Renata bald verfallene Ritter Ruprecht kann sie nicht retten, denn zeittypisch spielen auch eine Wahrsagerin, der Gelehrte Agrippa von Nettesheim, ein obskure Geheimschriften liefernder Antiquar, schließlich Faust und folgerichtig auch Mephistopheles herein.

Was insgesamt ein Parallelwerk zu Pendereckis „Teufel von Loudon“ sein könnte, hat Regisseur Barrie Kosky im Nationaltheater völlig enthistorisiert und privatisiert. Eigentlich hätte am Ende seiner Neudeutung von Prokofjews „Feurigem Engel“ ein Wagen der Nervenheilanstalt München-Haar auf die Bühne rollen können, um die sich als Renata ausgebende Svetlana Sozdateleva sofort einzuliefern. Denn was die Moskauerin in hysterischer Gestik, selbstvergessener Körpersprache bis hin zu hektischem Aktionismus parallel zu immer wieder hochdramatisch ausbrechendem Gesang leistete, war nicht nur derzeit wohl konkurrenzlos, sondern auch ein perfekt gezeichnetes Krankheitsbild. Bravissima!

Koskys Ritter Ruprecht könnte ein international erfahrener Businessman von heute sein, der sich in die Luxussuite eines Hotels einmietet. Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat das im bühnenbreiten Cinemascope-Format bis ins neobarocke Kitschdetail gestaltet. Zu diesem exakten Realismus passt nicht, dass Renata einfach unter dem Luxusbett hervorgekrochen kommt.

Doch es begegnen sich ja nicht Vicki Baums „Menschen im Hotel“, sondern eine Erkrankte nimmt den Raum samt Klavier in Besitz und verwüstet ihn gelegentlich. Parallel zu ihren Wahnschüben verengt sich der Raum mit fahrenden Wänden und Decke mal bedrängend oder weitet sich gespenstisch bühnengroß.

In diese Psycho-Kammer lässt Regisseur Kosky dann mit Agrippa eine Jüngerschar hereinbrechen: es sind Tattoo-bemalte Transvestiten in bauschigen Abendkleidern, die in Otto Pichlers schlichter Choreografie ein bisschen „Rocky Horror“ beginnen – und dann beim Auftritt von Faust und Mephistopheles sich in ein Sadomaso-Gewusele mit Strapsen und Penis-Gewackel steigern. Übrigens hin zum „Höhepunkt“, dass ein Glied erst als Wurst gebraten, halb verspeist und dann Renata als Penis angenäht wird.

Noch befremdlicher war Koskys Entschluss, alle Klosterinsassen – klanglich glänzend: der von Stellario Fagone einstudierte Chor – im Kostüm eines dornengekrönten Christus auftreten zu lassen. Völlig sinnentfremdet auch der Inquisitor, der die vom Teufel besessene Renata dem Scheiterhaufen überantwortet. Doch das Premierenpublikum akzeptierte alles, denn es war theaterhandwerklich glänzend gemacht: Beifall, Jubel, kein einziges Buh.

Uneingeschränkter Applaus gebührte der musikalischen Seite der Aufführung. Vladimir Jurowski konnte das Staatsorchester animieren, Prokofjews Vielfalt leuchten, glänzen und beeindrucken zu lassen – da stehen neben knallharter Rhythmik à la Strawinsky ariose Aufschwünge in der Nachfolge Tschaikowskys, slawische Kirchenmusikklänge kontrastieren zu ostinaten Wiederholungen à la Minimal Music und die Zwischenspiele sind grandiose Musikdramatik. Dennoch wurden neben der überragenden Svetlana Sozdateleva auch der kernige Bariton von Evgeny Nikitins Ruprecht oder – stellvertretend für alle gut besetzten Nebenrollen – der grell verstiegene Tenor von Vladimir Galouzines Agrippa oder der geifernde Mephisto-Tenor von Kevin Conners nie zugedeckt.

Musikalisch bot der Abend echtes Staatsopernniveau. Ob sie Koskys inszenatorischen Einseitigkeiten folgen wollen, müssen künftige Besucher selbst entscheiden.

Weitere Vorstellungen am 3., 6., 9., 12. und 16. Dezember, Karten unter Tel. (0 89) 21 85 19 20.