Das aufgeklärte Ich

Prokofjews «Feuriger Engel» stellt die Ausübenden vor immense Herausforderungen. Die Erstaufführung an der Bayerischen Staatsoper brachte keine überzeugende Regie, aber grossartige Sängerleistungen.

Marco Frei
Drucken
Von teuflischen Visionen verfolgt: Svetlana Sozdateleva als Renata in Sergei Prokofjews Oper «Der feurige Engel» an der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl)

Von teuflischen Visionen verfolgt: Svetlana Sozdateleva als Renata in Sergei Prokofjews Oper «Der feurige Engel» an der Bayerischen Staatsoper. (Bild: Wilfried Hösl)

Es ist kein Geheimnis, dass die russische Moderne die westliche Kunst und Kultur in grossem Umfang beeinflusst und geprägt hat. So sind sozialkritische Utopien wie «Brave New World» von Aldous Huxley oder George Orwells «1984» direkt inspiriert von den totalitären Abgrundszenarien, die Jewgeni Samjatin 1920 in seinem visionären Roman «Wir» entwirft. Andererseits hat der gewichtige Symbolist Valeri Brjussow 1908 mit seinem Roman «Der feurige Engel» Huxleys «Die Teufel von Loudun» von 1952 vorweggenommen. Aus Huxleys Buch wurde die erste Oper von Krzysztof Penderecki.

Traum und Trauma

Wie später Huxley entwirft auch Brjussow ein mittelalterlich anmutendes Szenario, das um Religion und Besessenheit, Teufelsaustreibung und Hexensabbat, Hysterie und Aufklärung kreist. Doch während Huxley im totalitären Glaubensfanatismus die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erblickte, geht es Brjussow um das aufgeklärte Ich an der Schwelle zur Neuzeit. Das Kühne an Brjussows Roman ist die Mehrdeutigkeit: Zwischen Sein und Schein, Wahn und Wirklichkeit, Traum und Trauma ist es ein schmaler Grat – was übrigens auch manche Pioniere der modernen Psychologie inspirierte.

Das Problem von Sergei Prokofjews gleichnamiger Oper nach dem Roman von Brjussow, die jetzt an der Bayerischen Staatsoper unter der Leitung von Vladimir Jurowski ihre Münchner Erstaufführung erlebte, ist die Eindeutigkeit von Libretto und Musik – was vor allem die Hauptfigur namens Renata berührt. Als Kind ist ihr der «feurige Engel» Madiel erschienen, ihm fühlt sie sich eng verbunden – so eng, dass sie sich mit ihm auch körperlich vereinen möchte. Doch Madiel verweigert sich, er macht sich aus dem Staub, und seither sucht Renata ihn – vergeblich.

Ihre Suche beginnt in einem Hotelzimmer, wo sie Ruprecht begegnet; hier setzt Prokofjews «Feuriger Engel» ein. Im Zentrum der Oper stehen Renatas Visionen und Orgien. Zwar versteht es Prokofjew, das wilde Treiben bühnenwirksam in Szene zu setzen; allerdings bricht er den Stoff mit bruitistisch-motorischer Rhythmik und manchen grellen Orchesterfarben einzig auf eine kultische schwarze Magie herunter.

Deshalb sollte die Regie um Mehrdeutigkeiten ringen, indem sie interpretiert. In München aber hat sich Barrie Kosky für die Bebilderung entschieden, wobei er gerade die Orgien und Visionen um ein Vielfaches übersteigerte. Hierzu hat der Intendant der Komischen Oper in Berlin das getan, was er am besten kann, nämlich das Bedienen der Revue und des Musicals – eine Ästhetik, die in München besser am benachbarten Gärtnerplatz-Theater aufgehoben wäre. Für Kosky ist Prokofjews Oper eine «feurige Landschaft», in der Renata (Svetlana Sozdateleva) und Ruprecht (Evgeny Nikitin) ihre Sehnsüchte und Phantasien ausleben. Und wie so häufig bei Kosky wuseln und tanzen zu diesem «Spiel ohne Regeln» im «brennenden Paradies» stramme, tätowierte Kerle über die Bühne.

Zunächst hampeln und fuchteln diese Teufelchen in Röckchen und Ballkleid umher, dann in engen Lederhosen und mit freiem Oberkörper, schliesslich mit grossen Gummi-Gemächten, die man auch für Bockwürste halten könnte. Dem Oberteufel Mephisto (Kevin Conners) gefällt das derart gut, dass er bald schon herzhaft in eine solche Wurst hineinbeisst. Autsch! Das alles gipfelt in einem Chor, der aus Nonnen besteht, die jeweils wie Jesus Christus aussehen – dornengekrönt und blutüberströmt. Als Ober-Jesus regiert hier indes der Grossinquisitor (Goran Jurić), mit vielen Lichteffekten (Joachim Klein) und aufwendigen Kostümen (Klaus Bruns).

Natürlich schlummern in diesem Nonnenchor spannende Verbindungen zu Pendereckis Huxley-Oper, die 1969 in Hamburg uraufgeführt wurde; allerdings bleibt fraglich, ob Kosky diese Parallelen zu «Die Teufel von Loudun» bewusst in den Raum stellen wollte. Denn er ist ein Meister der Bebilderung, das konzise Deuten aber ist seine Sache nicht – weshalb sich auch diese Schlussszene in überladener Effekthascherei erschöpft.

Zuvor entwirft die Bühne von Rebecca Ringst in der ersten Hälfte ein Einheitsbild, nämlich das besagte Hotelzimmer von Ruprecht. Plötzlich krabbelt Renata unter dem Bett hervor, und was folgt, sind Monologe und Dialoge, zu denen das Paar unaufhörlich durch das Zimmer wandert. Zwar entwickelt dieses Bild eine beklemmende Enge, die auch manche entfremdete zwischenmenschliche Beziehung lähmt; mehr als flüchtige Assoziationen aber hat Kosky auch hier nicht zu bieten.

Klangliche Mehrdeutigkeit

Umso spannender war die Gestaltung von Ruprecht und Renata durch Nikitin und Sozdateleva, zumal beide den Gesang fein ausbalancierten zwischen dem Lyrischen und dem Dramatischen. Schon in Brüssel, Düsseldorf und Berlin hat Sozdatelva die Partie der Renata gesungen, in München ersetzte die Russin die erkrankte Evelyn Herlitzius – zum Glück ganz ohne Stimmgewalt und Überdruck. Damit wurde der Produktion klanglich jene Mehrdeutigkeit geschenkt, die sich sonst rar machte – was das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Vladimir Jurowski aufgriff. Wirkungsvoll und doch stets durchhörbar wurde die Musik verlebendigt, wovon der Gesang profitierte. Dass diese überladenen Visionen nicht auch akustisch ausuferten, war das grosse Verdienst von Jurowski.