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Verstörend gut: "Salome" in Stuttgart

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Endlich am Ziel: Salome (Simone Schneider) mit dem TV-Bild des toten Jochanaan (Yasin El Harrouk).
Endlich am Ziel: Salome (Simone Schneider) mit dem TV-Bild des toten Jochanaan (Yasin El Harrouk). © Foto: A.T. Schaefer

Stuttgart - Kirill Serebrennikov glückt mit seiner Strauss-Inszenierung die Aufführung des Jahres: die Kritik

„Schreckliches kann geschehen“, argwöhnt der Page – und dem Zuschauer geht es auf den ersten Blick genauso. CNN-Nachrichten, Szenen zerstörter Städte oder aus Wüsten, Männer mit Maschinenpistolen, Hinrichtungen, die gerade noch rechtzeitig ausgeblendet werden, dazu ein geschlecktes Haus, überall Beobachtungskameras und Sicherheitspersonal, Videos auf der großen Rückwand, eine mafiöse Gesellschaft: Allen jenen Zutaten werden wir also ausgesetzt, die „Gegenwärtigkeit“ von Oper behaupten – obwohl das diese großen, tiefen Stücke doch eigentlich gar nicht nötig haben.

Aber dann kommt Regisseur Kirill Serebrennikov samt Bühnenbildner Pierre Jorge Gonzalez und Videokünstler Ilya Shagalov nach Stuttgart, arbeitet mit genau diesen Mitteln – und den Menschen in der Staatsoper bleibt eindreiviertel Stunden lang der Mund offen. Eine solche „Salome“ hat man noch nicht erlebt. Und die Frage ist, ob dem Frühwurf von Richard Strauss überhaupt jemals eine derart vielschichtige, atemberaubende Deutung zuteil wurde. Serebrennikov, russischer Film-, TV-, Schauspiel- und Opernmann, ist in seiner Heimat tief eingetaucht in Theaterexperimentelles. Seine Stuttgarter „Salome“ ist quasi die Inszenierung zum augenblicklichen Kulturenclash, gerade weil sie die Angst vor dem anderen zeigt, den Fundamentalismus, der sich sowohl im Religiösen also auch in einer von sich selbst besoffenen Schicki-Clique manifestiert.

Jochanaan, den von Salome angebeteten Propheten, gibt es doppelt. Einmal in Gestalt des einschüchternd tönenden Heldenbaritons Iain Paterson – und in der von Schauspieler Yasin El Harrouk. Und die Faszination, die von diesem Jochanaan II ausgeht, von seinen arabisch gebellten Parolen, von seiner jugendlichen Erotik, lässt die Grenzen in dieser Aufführung verwischen: Wer oder was ist wirklich anders? Wer fügt wem Unrecht zu? Was geschieht aus Selbstschutz, was aus Unverständnis? Wohl noch nie ist das Strauss-Opus mit einer solch verstörenden Wucht ins Heute geholt worden.

Zugleich nimmt Serebrennikov dem Einakter jegliche Überdrehtheit, auch jene oft erlebte, letztlich stereotype exotische Schwüle. Seine „Salome“ ist kalt, schmucklos, zugleich von einer handwerklichen Genauigkeit und Dichte nahe der Perfektion. Ob Herodias oder Herodes oder die Titelheldin selbst: Nie wird Karikaturenalarm ausgelöst und damit die Musik verdoppelt. Salome, von Simone Schneider mit fast untypisch gerundetem Sopran und enorm höhensicher gesungen, scheint vielmehr gelangweilt von all dem Geschehen, zappt sich lieber mit Brutalo-Trickfilmen in ihre eigene Welt. Claudia Mahnke ist als Herodias nicht am Rande der Hysterie, ebenso wenig wie Matthias Klink als Herodes, der den Herrscher so abgründig und intelligent gestaltet wie eine Mixtur aus Tom Hanks und Edgar Selge. Der Einzige, der mächtig (und eine Spur zu phonstark) auftrumpft, ist Roland Kluttig am Pult des wie entfesselten Staatsorchesters.

Gerade in ihrer Ignoranz von Emotion schlittert diese Gesellschaft in die tödliche Erstarrung. Und wir, die ihr dabei zuschauen, sind nicht Voyeure, wie oft bei „Salome“, Kulinariker des Grauens, sondern fast peinlich berührt von dem Geschehen, als ob man nur widerwillig Zeuge wird. Auch deshalb regt sich zunächst keine Hand zum Beifall. Diese Inszenierung lässt einen so schnell nicht los, sie ist – mindestens – die Aufführung des Jahres.

Karten unter Telefon 0711/ 20 20 90.

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