Die Traumatisierten

Mit «South Pole» von Miroslav Srnka und «Stilles Meer» von Toshio Hosokawa wurden in München und Hamburg gleich zwei neue Opern uraufgeführt. Die Werke verraten viel über das Musiktheater unsrer Zeit.

Marco Frei
Drucken
Am Ende zahlen Tier und Mensch die Zeche: Szene aus Miroslav Srnkas Oper «South Pole» in der Münchner Uraufführungsinszenierung von Hans Neuenfels. (Bild: Wilfried Hösl)

Am Ende zahlen Tier und Mensch die Zeche: Szene aus Miroslav Srnkas Oper «South Pole» in der Münchner Uraufführungsinszenierung von Hans Neuenfels. (Bild: Wilfried Hösl)

Es sind heute vornehmlich ältere Komponisten, die mit ihren Werken die Opernbühne auch für kritische Befragungen unserer Zeit nutzen. Sonst aber fällt auf, dass die jüngeren Generationen sich bevorzugt in Sujets flüchten, die kaum eine politische oder zeitkritische Dringlichkeit entwickeln – obwohl das Heute doch so reich ist an zwingenden Themen. Diese schlummern ungenutzt, draussen, oft direkt vor der Tür. Dies offenbarte sich auch jetzt wieder bei der Uraufführung von zwei neuen Opern in Hamburg und München. Das eine Werk stammt von dem 60 Jahre alten Japaner Toshio Hosokawa, das andere von dem 40-jährigen Tschechen Miroslav Srnka.

Gestern und heute

Während in Srnkas «South Pole» an der Bayerischen Staatsoper unter der Leitung von Generalmusikdirektor Kirill Petrenko der tödliche Wettlauf zwischen dem Briten Robert Scott und dem Norweger Roald Amundsen zum Südpol in den Jahren um 1911 nachvollzogen wird, reflektiert Hosokawas «Stilles Meer» an der Hamburgischen Staatsoper mit Kent Nagano (dem Vorgänger Petrenkos in München) am Pult die Tsunami- und die sich anschliessende Atomkatastrophe in Japan vom März 2011. Beide Opern eint ein Unglück, mehr aber auch nicht – obschon Srnka sich künstlerisch auch bereits mit Tsunamis auseinandergesetzt hat: In seinem Werk «Magnitudo 9.0» von 2005 reagierte er auf das Tsunami-Desaster in Asien von 2004.

«Stilles Meer» von Toshio Hosokawa an der Hamburgischen Staatsoper (20. Januar). (Bild: Lukas Schulze / EPA)

«Stilles Meer» von Toshio Hosokawa an der Hamburgischen Staatsoper (20. Januar). (Bild: Lukas Schulze / EPA)

In seiner Kammeroper «Make No Noise» aus dem Jahr 2011, dem ersten Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper, liess Srnka hingegen menschliche Schicksale tödlich aufeinanderprallen – auf einer Bohrinsel im Meer. Srnka interessiert sich auf der Bühne vornehmlich für «menschliche Konstellationen», die sich aus Grenzsituationen ergeben können – so auch jetzt in «South Pole». Für den Japaner Hosokawa stehen indessen die Folgen der Katastrophe von 2011 in seiner Heimat im Vordergrund.

Kollektive Verdrängung

In «Stilles Meer» entwirft Hosokawa das Psychogramm einer Gesellschaft, dies zeugt von einem anderen Ansatz und einer grundlegend anderen, nämlich politischen Haltung. In Japan wird gegenwärtig ein kollektives Trauma auch kollektiv verdrängt – zumal 2020 in Tokio die Olympischen Spiele ausgetragen werden. Dafür soll alles glanzvoll strahlen, doch was derzeit strahlt – unsichtbar, schleichend tödlich –, sind Teile der radioaktiv schwer verseuchten Küstenregionen Japans. Zehntausende hausen noch immer in Notunterkünften, isoliert und alleingelassen. Über die Toten wird geschwiegen, und die Überlebenden sind zum Schweigen verdammt.

Um diese Leere auszufüllen, hat das Lucerne Festival schon 2013 den mobilen Konzertsaal «Ark Nova» für das Katastrophengebiet initiiert. Toshio Hosokawas neue Oper spricht nun unumwunden aus, was in weiten Teilen der japanischen Gesellschaft nicht ausgesprochen wird. Im Zentrum steht Claudia (Susanne Elmark), die mit ihrem Sohn Max von Deutschland nach Japan ausgewandert ist. Beim Tsunami sterben Max und Claudias japanischer Partner. Sie kann deren Tod nicht verwinden, zumal ihre Leichen nicht gefunden wurden – weil im verseuchten Sperrgebiet nicht gesucht werden darf.

Um Claudia beim Prozess des inneren Loslassens zu helfen, reist ihr Ex-Mann Stephan an (gesungen von dem Countertenor Bejun Mehta), der Vater von Max; doch die Entfremdung zwischen ihm und Claudia ist zu gross. Stattdessen vermögen buddhistische Rituale und das klassische japanische Nō-Theater Claudia zumindest etwas zu trösten.

Dieses Requiem inszeniert Oriza Hirata, der auch die Textvorlage zu Hosokawas Oper schrieb, mithilfe eines langen Steges, auf dem Claudia wandelt – der schmale Grat zwischen Diesseits und Jenseits (Bühne: Itaru Sugiyama). Eine Glasfläche steht für das Meer, weisse Laternen symbolisieren die Seelen der Toten.

Die atomare Katastrophe an sich ist nur präsent, wenn Menschen in Schutzkleidung auf der Bühne stehen – oder in Gestalt eines Roboters in der radioaktiven «Gefahrenzone». Sonst aber ist diese Oper eine einzige grosse Trauerarbeit, freilich ganz ohne Pathos und Larmoyanz. Überdies machen die luzid-fragilen Timbres von Susanne Elmark und Bejun Mehta das Gebrochene ihrer Figuren hörbar.

Der Sieger ist der Verlierer

Ähnliches gilt in München für die beiden Protagonisten Thomas Hampson (Amundsen) und Rolando Villazón (Scott). Allerdings war Villazóns Brüchigkeit mehr der Tatsache geschuldet, dass er seinen gesanglichen Zenit leider überschritten hat. Dafür aber ist er ein «Star», und das kommt in München immer gut an. Auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper sind bei der Uraufführung am vergangenen Sonntag zwei Abenteurer zu erleben, die für ihre Vaterländer England und Norwegen um den Südpol wetteifern – Konflikte innerhalb der Expeditionsteams, gefährliche Gletscherspalten sowie Hunde und Pferde eingeschlossen, die dann irgendwann im Verlauf erschossen werden, um sie zu essen.

Dies alles kleidet Altmeister Hans Neuenfels in seiner Regie ganz in Schneeweiss. Ein Balken trennt die Bühne und zugleich die beiden Abenteurer-Gruppen, denn in dieser sogenannten «Doppeloper» werden zwei Geschichten simultan erzählt. Auf der rechten Seite siegen die Norweger, links sterben die Engländer. In einem Pressegespräch erblickten Srnka und sein Librettist Tom Holloway hierin auch ein denkbares Sinnbild für den Fall des britischen Empire – das Ende einer Ära, nicht unähnlich dem heutigen Zustand Europas. Diese Deutung ist freilich unerheblich, zumal der Opernstoff schon vor fünf Jahren eher zufällig gewählt wurde: Für den Südpol habe er sich entschieden, als er in einem Münchner Geschäft auf ein T-Shirt gestossen sei – mit der «Fram», dem Schiff von Amundsen, darauf, so Srnka.

Während nun Scott im Wissen um sein Scheitern im Eis immer weicher wird, verhärtet Amundsen zusehends. Seinem kritischen Begleiter Johansen (Tim Kuypers) kündigt er an, dessen Teilnahme am Südpol-Trip zu verschweigen – obwohl der sich entschuldigt hatte. Der Sieger ist der eigentliche Verlierer, weil er jedwede Menschlichkeit verliert.

Scotts Wärme und Amundsens Kälte spiegeln sich in den Verhältnissen zu ihren Frauen wider, die als Botschafterinnen aus der Heimat durch die Handlung geistern (Tara Erraught als Scotts Frau und Mojca Erdmann als Amundsens Geliebte). Gleichwohl müht man sich über weite Strecken durch eine Oper, die weder der abendfüllenden Länge noch dem grossen Rahmen des Nationaltheaters gerecht wird. «South Pole» wirkt mehr wie eine künstlich aufgeblähte Kammeroper – am stärksten ist die Musik bezeichnenderweise immer dann, wenn Srnka die kammermusikalische Reduktion wagt – in Verbindung mit Akkordeon, Klavier, Harfe und Schlagwerk.

Diese Besetzung erinnert wiederum an «Make No Noise» von 2011. Überdies bestimmen erneut dynamische Extreme sowie das Zusammenführen von Geräuschhaftem und Klanglichem die musikalische Dramaturgie. Mit dem Bayerischen Staatsorchester holt Kirill Petrenko das Beste aus dieser Musik; die weitaus überraschendere Partitur ist jedoch Toshio Hosokawas «Stilles Meer». Neigte Hosokawas Musik bisher stark zum Vertikalen, um den Zeitverlauf im Raum wirken zu lassen, so strebt sie nun auch ins Horizontale – ungewöhnlich kontrastreich, dramatisch, mit eruptivem Schlagwerk-Einsatz.

Das Schweigen durchbrechen

Dies verbindet sich sinnstiftend mit den mikrotonal gebrochenen, auch geräuschhaften Klangflächen und der farbenreichen Stille des vertrauten Hosokawa-Klanges, den Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester mustergültig verlebendigen. Auch deswegen wäre es wünschenswert, wenn der Mitschnitt der Hamburger Uraufführung auf DVD bewahrt würde. Dies könnte zugleich helfen, das kollektive Verdrängen der Tsunami- und Atomkatastrophe von 2011 in Japan endlich zu durchbrechen.

Mehr von Marco Frei