Totentänze der Macht

Zwei Neuinszenierungen erregen derzeit die Gemüter: Während Claus Guth in Berlin einen Missbrauchsfall rekonstruiert, konfrontiert Kirill Serebrennikov «Salome» in Stuttgart mit dem Terror von heute.

Marco Frei
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«Salome» von Richard Strauss in Berlin: Szene mit Michael Volle (als Jochanaan) und Catherine Naglestad (als Salome). (Bild: Imago)

«Salome» von Richard Strauss in Berlin: Szene mit Michael Volle (als Jochanaan) und Catherine Naglestad (als Salome). (Bild: Imago)

Ein Klischee besagt, das moderne Regietheater halte das Publikum davon ab, in die Oper zu gehen. In Stuttgart wird dieser Tage der Gegenbeweis erbracht: Die Neuinszenierung der «Salome» von Richard Strauss erreicht an der Staatsoper eine Auslastung von über 95 Prozent, die Aufführungen im Januar hätten sogar doppelt verkauft werden können. Und nicht zuletzt sitzt viel junges Publikum im Saal. Dabei stellt die Regie des russischen Bühnen- und Filmregisseurs Kirill Serebrennikov eine Herausforderung dar, denn sie deutet die Handlung tagespolitisch und legt den Finger in die Wunden unserer Zeit.

Es geht um interkulturelle Missverständnisse und islamistischen Terror – ein Themenfeld, das infolge der Anschläge von Paris und jüngster Entwicklungen in der «Flüchtlingskrise» noch an Brisanz gewonnen hat. Seit Wochen ist diese «Salome» deshalb Stadtgespräch. Dabei hat Serebrennikov exakt das getan, was Puristen der Texttreue so gern einfordern: Er hat den Ort der Handlung wörtlich genommen. Seine «Salome» spielt im Palast des Herodes, eindrücklich verkörpert von Matthias Klink; in einer Weltregion also, die geprägt ist von Fundamentalismus, politisch-kulturellem Chauvinismus und gottlosem Terror. Wenn Salome – die ausdrucksstarke Simone Schneider – den Körper des Propheten Jochanaan besingt, bemüht sie zum Vergleich Orte aus Judäa und Palästina; auch ein junger Syrer, Narraboth, geistert durch Strauss' Textbuch nach der Vorlage von Oscar Wilde. Und so findet sich Serebrennikovs Salome in einer postmodernen, gläsernen Villa wieder (Bühne: Pierre Jorge Gonzalez), bewohnt von einer Machtelite, die freilich weniger herrscht als vielmehr selbst beherrscht wird – von der Angst.

«Salome» von Richard Strauss: Probe in Stuttgart im November 2015 (Im Bild: Simone Schneider und Mattias Klink). (Bild: Bernd Weissbrod / EPA)

«Salome» von Richard Strauss: Probe in Stuttgart im November 2015 (Im Bild: Simone Schneider und Mattias Klink). (Bild: Bernd Weissbrod / EPA)

Kameras überwachen jeden Winkel, und auf einer grossen Leinwand flimmern tagesaktuelle Bilder von zerstörten Städten und Schwerbewaffneten (Video: Ilya Shagalov). Im Palast sind die Bewohner westlich gekleidet oder verschleiert; doch sie alle eint, dass sie als gemeinsamen Feind den Propheten gefangen halten. Bei Serebrennikov, der auch die Kostüme entwarf, wird die Figur des Jochanaan in zwei Personen aufgespalten: Einer singt seine Bibelworte (Markus Marquardt), der andere ist ein Muslim, gespielt von dem deutsch-marokkanischen Schauspieler Yasin El Harrouk. Letzterer wird im Kerker gefoltert – ein Gefängnis, das an Guantánamo oder Abu Ghraib denken lässt. Welche «Saat des Bösen» hier herangezüchtet wird, offenbart sich, wenn Jochanaans zentrale Prophezeiung erklingt: «Es kommt ein Tag, da wird die Sonne finster werden wie ein schwarzes Tuch.» Zu diesen Worten werden Bilder eingeblendet von vermummten, blutverschmierten IS-Terroristen, die Menschen enthaupten – eine erschreckend schlüssige Assoziation.

Folgerichtig führt nicht Salome den Schleiertanz aus, sondern die dekadente Hofgesellschaft; dazu Bilder von westlichen Regierungsvertretern oder Repräsentanten der Regionalmächte – mit dabei Angela Merkel, Barack Obama und so mancher Scheich. Serebrennikov inszeniert einen Totentanz von politischen Eliten und gesellschaftlichen Systemen, die planlos um Lösungen ringen. Wenn Salome am Ende getötet wird, ist sie nicht mehr als ein Bauernopfer.

Auch Claus Guth inszeniert an der Deutschen Oper Berlin einen Totentanz, hier aber stirbt Salome nicht (Allison Oakes für die erkrankte Catherine Naglestad). Als Herodes (Burkhard Ulrich) seinen finalen Befehl ausspricht («Man töte dieses Weib!»), reagiert niemand, und Salome schaut ihren Stiefvater bloss müde lächelnd an. Denn Herodes hat seine Macht verloren, zumal die Macht über Salome. Sie ist es, die nun die Strippen zieht.

Es ist die immerwährende Geschichte von Missbrauch und Rache, die Guth entwirft – eine Familientragödie (was als Konzept indes nicht neu ist). Diese Geschichte wird in drei grossen Teilen erzählt, wobei Anfang und Ende in der Jetztzeit spielen, als Herodes bereits gefallen ist. Mit dem ersten Auftritt von Herodias (Jeanne-Michèle Charbonnet) und Herodes beginnt in der Rückblende die Aufarbeitung des Missbrauchs der Salome.

Diese Rückblende spielt in einem Geschäft für Herren-Massanfertigungen (Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner). Hier wird Salome von Herodes «massgeschneidert», für ihn muss sie verführerisch tanzen – als Kind, als Jugendliche und als Erwachsene. Ihre Mutter Herodias schaut weg. Mit Jochanaan (trotz Indisposition einnehmend: Michael Volle) macht Salome zunächst gemeinsame Sache, um sich zu rächen – bis sie feststellt, dass er Teil des patriarchalen Systems ist, dem sie zum Opfer gefallen ist.

«Durch das Weib kam das Unheil in die Welt», singt Jochanaan – in Guths Lesart wird deutlich, dass er Salome eine Mitschuld an ihrem Missbrauch gibt; aus einem Missbrauchsopfer wird eine Verbrecherin aus verlorener Ehre. Dies ist der Zielpunkt einer Regie, die sich allerdings in zusehends monotonen, statischen Abläufen erschöpft. Auch das Dirigat von Alain Altinoglu wirkt recht diffus, vor allem in der ersten Werkhälfte, wohingegen das Staatsorchester Stuttgart unter Roland Kluttig von Beginn an einen ungeheuren Sog entwickelt, wenn auch mit etwas dynamischem Überdruck. Es ist denn auch die starke Produktion in Stuttgart, die lange nachwirkt – und zu denken gibt.