Eine kleinbürgerliche Ladenzeile füllt die Bühne des Cuvillés-Theaters in kalten Grautönen. Fahles Licht wirft Schlaglichter auf das junge Ensemble, während musicalartige Tanzeinlagen die Inszenierung vor düsterer Tristesse bewahren. Benjamin Brittens Gesellschaftssatire Albert Herring wurde vom Opernstudio der Bayerischen Staatsoper mit vielen Höhen und Tiefen auf die Bühne gebracht – aber mit mindestens genauso viel Applaus.

Spielort der heiteren Oper ist Loxford, eine nichtssagende Kleinstadt irgendwo in England. Um dem Laster der Jugend endlich Einhalt zu bieten, will Lady Billows (Miranda Keys) eine Maikönigin mit Vorbildfunktion wählen lassen. Sogar ein hohes Preisgeld lässt sie ausloben, doch der ideenschwangere Vorschlag findet, trotz des nachhaltigen Insistierens ihres herausragend strahlenden Soprans, kein Pendant in der Wirklichkeit. Keines der jungen Mädchen, so muss auch der Stadtrat schnell einsehen, ist frei von Sünde, und so wird das Suchraster auf den männlichen Teil der Bevölkerung ausgeweitet. Keys zeigte dabei erstaunliche Bühnenpräsenz und ließ mehr als nur einmal durchblitzen, dass Sie auf dem besten Weg ist, ihr hochdramatisches Fach zur Gänze auszufüllen.

Im Mittelpunkt steht alsbald der von Petr Nekoranec gespielte Albert Herring. Als sittsamer Sohn einer einfachen Gemüsehändlerin wirkt er auf den ersten Blick wie ein Musterbild der Tugend: Stets pünktlicher Frühaufsteher, trink nie Alkohol, zeigt kein unsittliches Interesse an der Frauenwelt und arbeitet gewissenhaft und ohne Pause. Mit außergewöhnlich viel Empathie für seine Rolle zog Nekoranec emotional (und später auch buchstäblich) vor dem Publikum blank. Seiner Stimme verlieh der Tenor dabei ein eher kühleres Timbre und wusste zwar den inneren Konflikt seiner Figur passabel zu illustrieren, meist endete das jedoch in einer Frontalbeschallung des Publikums ohne allzu große stimmliche Differenzierung.

Im zweiten Akt wird Albert dann endlich zum Maikönig gewählt. Hingen im ersten Teil nur die roten Äpfel der Sünde von der Decke, inszenierte Róbert Alfödli nun ein letztes Abendmahl. Das gesamte Ensemble saß in weißer, sektenartiger Kluft an einer langen Tafel. In der Mitte thronte Lady Billow mit breitkrempigem Hut, den man sich scheinbar aus der Raffaelo-Werbung geliehen hat. Doch ihr wohlwollendes Patronat sollte bald es jähes Ende finden, denn Sid (John Carpenter ) mischt Albert unbemerkt eine wohlwollende Dosis Alkohol in sein Getränk.

Wenig später, aber schon betrunken, erwischt Albert den Scherzbold Sid und seine Geliebte Nancy bei einem heimlichen Stelldichein. Derart inspiriert beschließt er, nun endlich auch von den verführerischen Früchten der Sünde zu kosten. Mit Hilfe des stattlichen Preisgelds zecht er sich durch die Nachbarstadt, während er von allen Loxfordern erst verzweifelt gesucht und dann für Tod gehalten wird. So dramatisch wie die Story, so stimmlich überzeugend waren auch ihre Akteure. Marzia Marzo konnte mit ihrem schmelzigen Mezzo insbesondere im Duett mit John Carpenter brillieren. Deniz Uzun als drakonische Haushälterin Florence Pike entwarf mit charakterstarken Tieftönen einen dramatischen Gegenpol, während der Kinderchor der Bayerischen Staatsoper wiederholt für locker-humorvolle Einlagen sorgte.

Begleitet wurden sie vom spärlich besetzten Orchester, welches von der begnadeten Oksana Lyniv angeführt wurde. Benjamin Britten sah für seine einzige komische Oper nur 12 Musiker vor, die Lyniv mit großer Präzision und viel Gespür für die komplexe Struktur der Komposition in Griff hielt. Nur die Inszenierung selbst konnte nicht Schritt halten. Das Programmheft zu Albert Herring ist mit einem dichten, gefängnisartigen Gittergeflecht bedruckt. Um Ausbruch aus einer allzu starren Moralvorstellung, um Ausbruch aus der Engstirnigkeit und dem Kleinbürgertum sollte es gehen. Das alles wird von Róbert Alföldi thematisiert, aber nicht für die Gegenwart transkribiert.

Die Idee der paradiesischen Äpfel war, mit Blick auf den Gemüsehändler Herring, ebenso gut wie profunde. Auch die Verklärung der Maikönigswahl zum letzten Abendmahl war groß angelegt, doch der Zuschauer wurde mit diesen ersten Ansätzen sitzen gelassen und nicht in das Hier und Jetzt weitergeführt. Dazu hätte es mutigere Figuren gebraucht, die mehr als nur ein paar Takte schlechte Choreographie hätten tanzen dürfen. Am Ende präsentiert sich das Tugenddrama um Albert Herring unterhaltsam, kurzweilig, aber auch mit viel verschenktem Potenzial und allzu flacher Szenerie. Trotzdem hörenswert!

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