Vergewaltigung im Namen der Bibel

Zufällig erfährt Bellinis Oper «I Puritani» kurz nach Zürich auch in Stuttgart eine Neuinszenierung. Der Vergleich zeigt, wie unterschiedlich man mit diesem deutungsbedürftigen Stück umgehen kann.

Thomas Schacher, Stuttgart
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In Stuttgart sorgt das Bühnenbild von Anna Viebrock für eine hintergründige Ambiance: Ana Durlovski als Elvira. (Bild: A. T. Schaefer)

In Stuttgart sorgt das Bühnenbild von Anna Viebrock für eine hintergründige Ambiance: Ana Durlovski als Elvira. (Bild: A. T. Schaefer)

Ahnungsvoll kündigen die Hörner des Staatsorchesters Stuttgart unter Leitung von Giuliano Carella den Beginn des neuen Tages an. Eine Gruppe schwarz gekleideter Männer betritt die Bühne, sie gehen mit zuckenden Bewegungen und steinernen Mienen. Mit der einen Hand strecken sie ein schwarzes Buch in die Höhe – es muss wohl eine Bibel sein. Im Vordergrund tanzt eine Frau mit langen rotbraunen Haaren und verklärtem Gesicht ihre Runden. Es ist Elvira, die Tochter des puritanischen Generalgouverneurs, die Hauptfigur der Oper. Kurz darauf betritt eine zweite Frau die Bühne, bekleidet mit einer üppigen farbigen Robe. Sie dreht eines der an der Wand verkehrt aufgestellten Bilder und betrachtet sehnsuchtsvoll den darauf abgebildeten Ritter. Es könnte ihr Mann sein, der ermordete Stuart-König Karl I. Sie selber ist Enrichetta, seine Witwe, die von den Puritanern im Schloss gefangen gehalten wird. Elvira kopiert alle Bewegungen und Emotionen der gestürzten Königin, als ob sie sich mit ihr identifizieren würde.

Das bewährte Team um den regieführenden Stuttgarter Intendanten Jossi Wieler, den Dramaturgen Sergio Morabito und die Ausstatterin Anna Viebrock nimmt den Titel von Bellinis Oper beim Wort. Sie legen den Fokus auf die Puritaner, die in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts das Königtum beseitigt und unter der Führung von Oliver Cromwell eine Phase der Republik eingeleitet haben. Diese Puritaner werden freilich nicht positiv gezeichnet, sondern als eine fundamentalistische Gesellschaft, in der die Bibelstunde mit brutaler Gewalt konnotiert.

Der farbenprächtige Ritter

Die Einzige, die aus diesem System ausbrechen will, ist Elvira, unterstützt von ihrem Onkel Giorgio. Sie ist von Anfang an «wahnsinnig», sie hängt nämlich einem ganz persönlichen Traum nach: Sie sehnt sich nach einem farbenprächtigen Ritter, wie sie ihn eingangs auf dem Bild gesehen hat. Als dieser ihr schliesslich in der Gestalt des Stuart-Parteigängers Arturo begegnet, erwartet sie ihn im weissen Brautkleid und mit einer Krone auf dem Haupt.

Am Opernhaus Zürich, wo in der Neuinszenierung, die Ende Juni Premiere hatte, mit Andreas Homoki ebenfalls der Intendant Regie führte, wird der ebenfalls politische Ansatz zusehends verwässert und durch einen etwas schlichten psychologischen ersetzt. Am deutlichsten treten die Unterschiede in der Figur des Puritaners Riccardo zutage, dem der Gouverneur Elvira als Ehefrau versprochen hat: In Zürich lässt Riccardo am Schluss seinen Nebenbuhler Arturo aus persönlicher Eifersucht ermorden; in Stuttgart hat Riccardo seinen Schlüsselauftritt am Schluss des ersten Akts, als Arturo zusammen mit der Königswitwe Enrichetta aus dem Schloss geflohen ist, um diese vor der drohenden Ermordung zu retten. Vor versammelter Puritaner-Gemeinde reisst Riccardo Elvira an sich und vergewaltigt sie. Nicht einmal der Gouverneur verhindert dies, ja dieser ist bei Wieler sogar der heimliche Drahtzieher der Entwicklung. Die Schandtat wird in Kauf genommen, damit die «Reinheit» und Geschlossenheit der fundamentalistischen Gesellschaft gewahrt bleibt.

In Zürich weiss Homoki mit dem Gouverneur dagegen wenig anzufangen: Wieso Valton der Hochzeit Elviras mit Arturo zustimmt, bleibt unmotiviert. An die unschlagbare Pretty Yende der Zürcher Produktion kommt indes Ana Durlovski vom Ensemble der Oper Stuttgart nicht heran. Natürlich bringt auch Durlovski phantastische Koloraturen zustande, aber die improvisatorische Spontaneität und die extreme stimmliche Bandbreite der Zürcher Elvira gehen Durlovski ab. Letzteres hängt allerdings auch damit zusammen, dass sie von Anfang an in ihrer Traumwelt lebt und nicht erst nach dem Verschwinden Arturos in den Wahnsinn kippt.

Der Arturo von Edgardo Rocha ist ein betörender italienischer Heldentenor des Belcanto-Repertoires, wie er im Büchlein steht. Man begreift schnell, weshalb er Elviras Träume von einer anderen Welt erfüllen könnte. Der Riccardo von Gezim Myshketa dagegen zeigt eine rohe Natur und singt fast immer überdreht – was zu seiner Rolle perfekt passt. Stark aufgewertet ist in Stuttgart die Rolle Giorgios. Adam Palka, mehr Spielbass als Seriöser Bass, zieht alle Register, um Elvira aus der geschlossenen Welt der Puritaner hinauszuführen. Bezeichnenderweise trägt Giorgio als Einziger nicht die strengen Puritanerkleider, sondern könnte mit seinem eleganten Veston ein Mensch unserer Zeit sein. Dass am Schluss ausgerechnet er Arturo die Bibel in die Hand drückt und ihn dadurch mit den Puritanern gleichschaltet, ist freilich ein Widerspruch, der schwer zu deuten ist.

Heimliche Hauptdarsteller

Giuliano Carella befindet sich in seiner musikalischen Interpretation ganz auf der lyrischen Seite. Äusseres Merkmal dafür sind seine langsamen Tempi; aber auch der Schmelz und die Unaufdringlichkeit der Orchesterpartien zielen in diese Richtung. Fabio Luisi in Zürich akzentuiert dagegen mehr den dramatischen Charakter der Partitur und lässt das Orchester auch gern einmal die Führung übernehmen. In beiden Produktionen kommt dem Chor eine zentrale Aufgabe zu. Während dieser in der Zürcher Inszenierung aber eher dekorativ eingesetzt wird, rückt der Staatsopernchor Stuttgart zum heimlichen Hauptdarsteller auf. Denn die stärksten optischen Eindrücke gehen hier nicht von den Solisten aus, sondern von den Puritanern. Unvergesslich das Bild zu Beginn des zweiten Akts, wo die Männer sich im Kreis zu einer Bibelstunde versammeln, während die Frauen, gekleidet wie Nonnen, den Innenraum des Schlosses von dem Schmutz reinigen müssen, den die Stuarts Arturo und Enrichetta hereingebracht haben. Und die Bilder, die die Königswitwe im ersten Akt bestaunt hat, sind inzwischen auch entfernt worden. Die Luft ist wieder rein.