Bayreuther Festspiele: Erlösung aus dem Serail

Die Richard-Wagner-Festspiele finden nach den jüngsten Terroranschlägen in Bayern unter Polizeischutz statt. Zudem steht die Neuinszenierung des «Parsifal» wegen mehrerer Absagen unter keinem guten Stern. Der Einspringer am Pult wird zum Helden des Abends.

Christian Wildhagen, Bayreuth 6 min
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Hinter diesem Tor liegt die Erkenntnis – vorher muss Parsifal (Klaus Florian Vogt) allerdings dem Harem des bösen Zauberers Klingsor entkommen. (Bild: Enrico Nawrath)

Hinter diesem Tor liegt die Erkenntnis – vorher muss Parsifal (Klaus Florian Vogt) allerdings dem Harem des bösen Zauberers Klingsor entkommen. (Bild: Enrico Nawrath)

Richard Wagner würde sich wundern. Das sollen die Bayreuther Festspiele sein? Jählings ferngerückt scheint die provinzielle Weltabgeschiedenheit dieses Kunst-Ortes, der seit 140 Jahren Sehnsuchts- und Pilgerziel aller gläubigen Anhänger des Komponisten ist. Keine Spur mehr von der unnachahmlichen Mischung aus Sommerfrische und weihewonnenseliger Wagner-Kontemplation, die früher allenfalls von ein paar aufgeblasenen Skandälchen gestört wurde. In diesem Jahr gleicht der Grüne Hügel einer Festung.

Schon vor Wochen hatte sich Wagners Festspielhaus in einen Hochsicherheitsbereich verwandelt; doch was man zunächst als Übereifer einer nervös gewordenen Stadtverwaltung abzutun geneigt war, ergibt nun, nach den Anschlägen von Würzburg, München und Ansbach, einen traurigen Sinn. Es ist nicht zu verhehlen: Die Wagner-Festspiele 2016 finden unter massivem Polizeischutz statt, mit mehreren Sicherheitskordons rund um das Haus, Jackett- und Taschenkontrollen an den Einlässen sowie Zivilschützern im Publikum. Wer bis dato nicht wahrhaben wollte, wie sehr sich die sogenannte freie Welt unter dem Andrang des Terrors verändert – hier ist der bedrückende Beweis.

Erleuchtet durch Beleuchtung

Der Festspielgründer hätte freilich noch manch anderen Anlass, verwundert zu sein. Auf seiner schwer bewachten Bühne geschehen nämlich auch in diesem Sommer wieder seltsame Dinge. Da ergötzt sich eine Schar weiss gewandeter Mönche inmitten einer bürgerkriegszerstörten Kirche irgendwo zwischen Euphrat und Tigris am Leid ihres Anführers. Der erscheint nicht allein als Wiedergänger Christi mit Leinentuch, Ecce-Homo-Antlitz und Dornenkrone, sondern wird ganz handgreiflich zur Ader gelassen – weniger aus der dekorativen Speerwunde in der Flanke, vielmehr dort, wo es richtig ergiebig ist, so dass der ganze Mann am Ende in seinem Blute schwimmt.

Später badet der Tenorheld des Abends in einem orientalischen Serail inmitten mehr oder weniger entschleierter Haremsdamen – und braucht den Rest des Aufzugs, um wieder trocken zu werden am Leib und hinter den Ohren. Im dritten Akt hat dann eine entfesselte Fauna mit mannshohen Farngewächsen und einem Wellness verheissenden Aloe-Vera-Blatt das arg ramponierte Kirchengebäude erobert. Dort, wo zuvor Kreuz und Gralsweihebecken standen, wuchert nun ein Paradiesgarten, in dem sich die Blumenmaiden aus dem zweiten Akt in nackten Unschuldsbadespielen ergehen – «Erlösung unter der Dusche», spotteten Hellsichtige auf einer sozialen Plattform im Netz, wo die Aufführung in diesem Jahr live zu verfolgen war.

Das Durcheinander gehört zu der Neuinszenierung von Wagners «Parsifal», die der ehemalige Kölner und jetzige Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg verantwortet. Er war nicht die erste Wahl für diese Aufgabe – die Geschichte ist publik geworden: Ursprünglich hatte Katharina Wagner, nunmehr alleinige Herrin des Hügels, den Aktionskünstler Jonathan Meese für diese Produktion ausersehen.

Doch die Aussicht auf möglicherweise mit kollektivem Hitlergruss einherschreitende Gralsritter, obendrein an diesem einschlägig kontaminierten Ort, weckte derart viele Widerstände, dass man in Bayreuth wieder einmal Angst vor der eigenen Courage bekam. Unter grossem, von Meese für eigene Zwecke genutztem Theaterdonner schied man am Ende wieder voneinander. Laufenberg diente sein wohl einst für die Kölner Oper entworfenes Regiekonzept ersatzweise an – und liess sich in Interviews ausgiebig als Retter in der Not feiern. In Wahrheit kam diese Rolle allerdings einem anderen zu.


Bayreuther Festspiele 2016: Premiere von Wagners "Parsifal"


Denn nicht diese unausgegorene Mischung aus postmodernem Thesentheater und Rampengeschreite machte den Abend zum Erlebnis. Auch nicht die nach dem immerhin frappierenden Aderlass des Amfortas rasch wieder in zahmem Kreuz- und Devotionalienkitsch versickernde Religionskritik der Regie, der zur enigmatischen Schlussformel («Erlösung dem Erlöser») nicht mehr einfällt, als die Bühne leerzufegen und das Licht im Zuschauerraum angehen zu lassen – Erleuchtung durch Beleuchtung, sozusagen.

Nein, wer die ebenso kontroversen wie hoch profilierten Bayreuther «Parsifal»-Deutungen von Christoph Schlingensief und Stefan Herheim noch vor sich sah – zwei der wenigen Bayreuther Arbeiten, die gerade in ihrer Gegensätzlichkeit zu den für die Rezeption wegweisenden Inszenierungen der vergangenen Jahre zählen –, musste sich über das fade geistige Niveau dieser Auseinandersetzung mit Wagners «Bühnenweihfestspiel» doch arg wundern. Zumal es nach der Trennung vom Gesamtkunst-Krawallmacher Meese genügend Zeit gegeben hätte für eine vertiefende Probenarbeit.

Umso mehr beeindruckte, was dem Dirigenten Hartmut Haenchen, dem zweiten Ersatz-Künstler dieser nicht vom Glück verfolgten Produktion, bei seinem Debüt auf dem Hügel gelang. Haenchen nämlich hatte nach dem Rückzug von Andris Nelsons Ende Juni wenig mehr als die Haupt- und Endproben zur Verfügung, um seine Sicht der musikalischen Dinge bei Orchester und Sängern zu etablieren. Dass ihm dies in der Kürze der Zeit gelang, war das eigentliche Ereignis dieser Festspieleröffnung.

Wagner, historisch informiert

Und mehr noch: Nach dem an internen Widerständen gescheiterten Vorstoss Thomas Hengelbrocks im «Tannhäuser» von 2011 ist Haenchens Dirigat der erste nennenswerte Versuch überhaupt, endlich auch in Bayreuth eine an historischen Spielweisen und dem genauen Studium des autografen Materials orientierte Wagner-Interpretation durchzusetzen.

Anders als Hengelbrock mit dem frühen, nie für den hiesigen Graben konzipierten «Tannhäuser» hat Haenchen mit Wagners letztem Bühnenwerk die ideale Partitur für diese Bestrebungen auf seinem unsichtbaren Pult im Graben. Wie subtil die Instrumentierung des «Parsifal» auf die Eigenheiten (und Tücken) der Bayreuther Akustik abgestimmt ist, macht diese Aufführung gerade durch ihre Zurücknahme im Klanglichen exemplarisch deutlich.

Denn es ist nicht das von Dirigenten wie Knappertsbusch und später von Levine und Barenboim tradierte Mischklang-Ideal der Spätromantik, das heute vom amtierenden Musikdirektor Christian Thielemann in Vollendung zelebriert wird, sondern ein erstaunlich filigraner Klang, der näher bei Mendelssohn, Schumann und einem historisch entschlackten Brahms-Stil steht als bei Strauss und Pfitzner. Das verleiht besonders dem dritten Akt eine Zerbrechlichkeit und kristalline Leuchtkraft, die im entrückten «Karfreitagszauber» nicht zuletzt die unterschwellige Melancholie dieser Weltentsagungsmusik hervortreten lässt.

Die Nähe zu Mendelssohn und namentlich zur Oratorienwelt des «Elias», die schon Hengelbrocks bahnbrechende «Parsifal»-Aufführung auf historischen Instrumenten 2013 in Dortmund, Essen und Madrid herausstellte, hätte dem üblen Antisemiten Wagner gewiss wenig gefallen, verteidigt aber die Wahrheit des Kunstwerks gegen seinen Schöpfer: Das «Bühnenweihfestspiel» muss eben nicht in Klangnebeln wabern, um Erhabenheit und «Weihe» zu verbreiten.

Die Spieldauer von lediglich knapp vier Stunden (ohne die beiden einstündigen Pausen) offenbart die durchweg fliessenden, nie behäbigen Tempi Haenchens, ohne dass diese erhebliche Beschleunigung jemals forciert oder unorganisch in Erscheinung träte. Allenfalls ein paar marginale Unstimmigkeiten zwischen Bühne und Graben deuten darauf hin, dass sich noch nicht alle Sänger an diesen Bruch mit der Bayreuther Tradition gewöhnt haben.

Merkliche Schwierigkeiten hat erstaunlicherweise Klaus Florian Vogt als Parsifal, obschon er mit seinem schlanken Lohengrin-Tenor ideal zu Haenchens Klangkonzept passt. Doch am Premierenabend wirkt er stellenweise matt und etwas atemlos, als fühle er sich durch die fliessenden Tempi mehr gedrängt als befreit. Der für Vogt so charakteristische Legato-Zauberglanz wie bei dem finalen Ruf «Enthüllet den Gral, öffnet den Schrein» entfaltet sich andernorts noch zu selten.

Vorbildlich nutzt dagegen Georg Zeppenfeld als weiser Gurnemanz den dynamischen Spielraum, den ihm das Dirigat bietet. Ohne jeden Druck und entsprechend ohne hörbare Ermüdungserscheinungen gestaltet er seine riesige Partie, wortverständlich vom ersten bis zum letzten Takt – eine so seit Jahren in Bayreuth nicht gehörte Glanzleistung, die sich nur dann noch steigern liesse, wenn Zeppenfeld einem gewissen Hang zum salbungsvollen Sarastro-Ton entgegenwirken würde.

Dem Dirigenten eine Chance

Mit der Russin Elena Pankratova ist die Kundry ausgeprägt dramatisch, ja wuchtig besetzt, was eher zum erwarteten Konzept von Andris Nelsons zu passen scheint. Doch Pankratova, die erfreulich akzentfrei singt, erkennt ebenfalls schnell, welchen Zugewinn an Gestaltungsmöglichkeiten ihr das stimmenfreundliche Dirigat Haenchens eröffnet. Sie setzt ihre Volumenreserven folglich sehr dosiert, aber gezielt ein und riskiert einen atemberaubend expressionistischen, aber sauber gesungenen Oktav-Septim-Schrei bei der Angststelle «...und lachte!». Auch sie ist ohne Frage die interessanteste Besetzung der Rolle seit langem.

Stimmlich unauffällig – im Unterschied zum beschriebenen szenischen Aderlass seiner Figur – bleibt Ryan McKinny als Amfortas. Wie bei Vogt und Pankratova spürt man hier indes ein Entwicklungspotenzial; bei dem blassen Klingsor von Gerd Grochowski bleibt dagegen Skepsis. Die von Eberhard Friedrich auf das gewohnte Festspielniveau geführten Chöre reagieren mit einer nochmaligen Steigerung der dynamischen Bandbreite auf Haenchens Ansatz. Bleibt nur zu hoffen, dass auch Haenchen selbst von der Festspielleitung die Chance erhält, sein schon jetzt überragendes Konzept in den nächsten Jahren zu entwickeln.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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