Dünn ist der Firnis der Zivilisation

Der Komponist Thomas Adès macht Luis Buñuels Filmklassiker «Der Würgeengel» zu einer Opernparabel von apokalyptischer Wucht: Gibt es einen Ausweg für uns Menschen, gefangen in unserer grossen kleinen Welt?

Christian Wildhagen, Salzburg
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Wenn das Ende droht, kommen alle Geheimnisse ans Licht: Szene aus «The Exterminating Angel» in Salzburg. (Bild: Monika Rittershaus)

Wenn das Ende droht, kommen alle Geheimnisse ans Licht: Szene aus «The Exterminating Angel» in Salzburg. (Bild: Monika Rittershaus)

Der Engel kommt nicht. Auch sonst geschieht Merkwürdiges in Luis Buñuels Film «El ángel exterminador», zu Deutsch «Der Würgeengel». Eine Gruppe von Menschen, eher zufällig nach einer Aufführung von «Lucia di Lammermoor» auf einer privaten Party versammelt, kann plötzlich den Raum, in dem ihr von hohlem Geschwätz begleitetes Gelage stattfindet, nicht mehr verlassen. Ob dabei tatsächlich höhere Mächte im Spiel sind, die dieses Strafgericht über die Welt in nuce bringen, oder ob alle bloss schlagartig einer kollektiven Abulie verfallen, steht dahin; es ist nicht entscheidend. Frappierend ist vielmehr, wie schnell der Firnis der Zivilisation bröckelt und tödliche Konflikte aufbrechen unter den Eingeschlossenen. Kurz bevor es dem Gastgeber an den Kragen geht – er soll als eine Art Befreiungsopfer dargebracht werden –, gelingt es der Gruppe in einer letzten gemeinsamen Willensanstrengung, gleichsam aus diesem «falschen» Film und damit aus der unfreiwilligen Klausur auszubrechen. Ob die wiedergewonnene Freiheit allerdings von Dauer ist, steht wiederum in den Sternen.

Upperclass-Probleme

Der britische Komponist Thomas Adès hat aus Buñuels Film von 1962, der zu den Meilensteinen des späten Surrealismus gehört, sein mittlerweile drittes abendfüllendes Bühnenwerk gemacht. Die Uraufführung von «The Exterminating Angel» eröffnet in diesem Sommer das Opernprogramm in Salzburg, das neben Wiedereinstudierungen der «West Side Story» (mit Cecilia Bartoli) und eines Da-Ponte-Zyklus ferner einen Gounodschen «Faust» und, als zweites Wagnis immerhin, die späte «Liebe der Danae» von Richard Strauss umfasst.

Dass bei Adès' Werk neben den Festspielen auch noch das Royal Opera House in London (wo das Werk im kommenden April zu sehen sein wird) sowie die New Yorker Met und die Kopenhagener Oper als Partner der Produktion firmieren, zeigt, welche finanziellen und logistischen Herausforderungen heutzutage mit einer solchen Opernaufführung von mehr als nur regionalem Anspruch verbunden sind. Umso mehr spricht es für den nach wie vor am hellsten strahlenden Festival-Leuchtturm der musikalischen Welt, dass man dieses Wagnis eingeht – zumal man an der Salzach in den vergangenen Jahren mit gescheiterten Opernprojekten, unter anderem von Ligeti und dem von Alexander Pereira an die Scala «entführten» Beckett-Projekt «Fin de Partie» von György Kurtág, nicht allzu viel Glück gehabt hat in dem Genre.

Was aber machen Adès und sein Librettist Tom Cairns, der auch die Inszenierung verantwortet, aus dem Drehbuch von Buñuel und Luis Alcoriza? Auf den ersten Blick eine Typen- und Gesellschaftssatire, durchaus in Fortsetzung von Adès' erfolgreichem Bühnenerstling «Powder Her Face» aus dem Jahr 1995. Allerlei Upperclass-Problemchen, garniert mit mannigfachen Eitelkeiten und viel englischem Snobismus, werden hier im Stile einer Farce verhandelt. Allerdings bleibt die musikalische Ausmalung dieses Sittengemäldes im ersten der drei Akte erstaunlich matt. Schärferes als eine wiederholt aus dem Tritt geratende Walzer-Parodie ist Adès nicht eingefallen. Wie viel treffsicherer war da Hans Werner Henze, als er schon 1953 in seiner Funk-Oper «Das Ende einer Welt» nach Wolfgang Hildesheimer ein auffällig ähnliches Endzeit-Szenario vertonte. Interessant wird es bei Adès erst, wenn die Katastrophe hereinbricht und das Geschehen plötzlich weniger an Hildesheimers «Lieblose Legenden» denn an Marlen Haushofers existenzialistische Parabel «Die Wand» erinnert, die ein Jahr nach Buñuels Film erschien.

Womöglich entspringt die Zurückhaltung im ersten Teil freilich höherem Kalkül: Adès zeigt sich auch in seinen ausladenden Orchesterwerken, etwa den Tondichtungen «Asyla» und «Tevot», als Meister des Überblicks und sinfonisch weiträumig entwickelter Spannungsbögen. Hier dient der erste Akt folglich nur als Exposé einzelner Charaktere, die dann in den Strudel der apokalyptischen Ereignisse geraten. Die Zeichnung dieser Charaktere vermeidet die Zuspitzung zur Karikatur, ist aber sehr plastisch – allein schon durch die beredte Wahl der Stimmfächer, deren Bandbreite von einem in Extremhöhen geführten Koloratursopran (die grandiose Audrey Luna als Leticia Maynar, ironisch genannt «Die Walküre») über den Countertenor (Iestyn Davies als hysterischer Francisco de Avila) bis hinab reicht zum wuchtigen Bass des allzeit beschwichtigenden Doctor Conde (John Tomlinson). Neben dem alten Wagner-Recken Tomlinson haben auf diese Weise noch weitere Sängerlegenden wie Thomas Allen (als Alberto Roc) und Anne Sofie von Otter (als dem Okkultismus verfallende Leonora Palma) starke Auftritte in Charakterfächern.

Neo-Romantik

Adès, der sein Werk mit generösem, aber präzisem Zugriff auch selbst dirigiert, weiss diese umfangreiche Besetzung virtuos zu beschäftigen. Nicht minder sprechend und farbenreich ist der Orchesterpart, in Salzburg tadellos zum Leben erweckt vom ORF-Radio-Symphonieorchester Wien, in dem angemessen endzeitlich dröhnende Röhrenglocken, verführerisch jaulende Ondes Martenot und eine naturalistisch ins Schloss krachende Tür dominierende Rollen spielen. Radikal Neues zu sagen hat Adès damit freilich nicht.

Als Vertreter des typisch britischen Eklektizismus geht seine stark terzbasierte, in den fatalistischen Liebesduetten zwischen Eduardo und Beatriz (Ed Lyon und Sophie Bevan) geradezu neo-romantische Tonsprache nicht wesentlich über Benjamin Britten hinaus. Der setzte seine Mittel indes weniger pastos und dadurch ungleich atmosphärischer ein. Auch das hohe handwerkliche Niveau von Adès' Partitur und ihre narrative Sogkraft deuten entschieden auf den Übervater der englischen Moderne hin, dessen Opern derzeit einen beispiellosen Siegeszug auf den Bühnen erleben.

Wie Britten bei «Billy Budd» oder «Death in Venice» haben Adès und Cairns ein Werk geschaffen, das eigenständig neben seiner berühmten Vorlage bestehen kann und das durch seine genuin musikdramatische Erzählweise mehr bietet als ein leicht ins Kunstgewerbliche abrutschendes «Remake» unter den Gesetzen einer anderen Gattung. Diesen Anspruch auf Eigenständigkeit betont auch Cairns' gekonnte Inszenierung, die in der Ausstattung von Hildegard Bechtler dem Retro-Plüsch des Films bewusst eine weniger opulente 1960er-Jahre-Ästhetik entgegensetzt. Ob «The Exterminating Angel» im Repertoire bestehen wird, über die vorgezeichneten Stationen in London, New York und Kopenhagen hinaus, muss freilich die weitere Rezeption erweisen.