Ganz hoch oben sitzt er, in der Kuppel eines christlichen Sakralbaus. Sein Gesicht lässt sich nicht erkennen, aber ihm scheinen sämtliche Haare ausgegangen zu sein. Auf einem Stuhl harrt er unbeweglich aus und blickt auf das, was unten Schutz sucht. Feldbetten füllen den Kirchenraum, für eine Nacht hat er auch denen Obdach gegeben, die nicht an den menschgewordenen Gott glauben. Jetzt wird zusammengeräumt, und ein paar versprengte Soldaten fuchteln mit ihren Maschinengewehren umher. Der neue Bayreuther Parsifal beginnt dort, wo das Christentum bedroht ist, wo es endgültig zum Verschwinden gebracht werden soll, in Mossul oder anderswo im Irak etwa.

Ein Szenario, das auf eine spürbar beklommene Festspielgemeinde trifft. Unmittelbar vor Aufführungsbeginn macht die Meldung die Runde, dass der Anschlag von Ansbach wohl einen islamistischen Hintergrund hat. Muss hier am Grünen Hügel jetzt mit Straßensperren und Polizeihunden die Freiheit unserer Kultur verteidigt werden? Und was hieße das überhaupt? Auf keinen Fall feiern, es gibt keinen roten Teppich in diesem Jahr, und auch die bayrische Landesregierung hat ihren Staatsempfang abgesagt. Selbst die Festspielchefin Katharina Wagner und ihr Musikchef Christian Thielemann sind nirgends zu sehen. Die Show um Wagner, so scheint es, vermisst niemand ernsthaft. Dafür plaudern die Festspielgäste auffallend oft mit den reichhaltig aufgebotenen Polizisten. Eine verunsicherte Zivilgesellschaft, nachmittags in Smoking und Abendkleid, schwitzend unter der drückenden fränkischen Schwüle.

Blut oder Wein, was wird gereicht?

Was der Regisseur Uwe Eric Laufenberg dem Premierenpublikum anbietet, soll angeblich einer Konzeption für die Kölner Oper folgen, die er dort dann nicht mehr umsetzen konnte. Jedenfalls, das merkt man schnell, ist der fürsorglich-brüderliche Auftakt schnell vorbei. Und es rückt unübersehbar in den Vordergrund, was für eine seltsame Gemeinschaft diese Gralsritter doch sind. Sie zwingen ihren sündigen Anführer Amfortas dazu, für sie zu bluten, sie gieren nach seinem Blut, das doch nicht rein ist, als wäre er Christus. Einar Schleef hat in seinem furiosen Traktat Droge Faust Parsifal nachgewiesen, dass Wagner selbst ins Schleudern kommt bei der Frage, ob nun Blut oder Wein gereicht werde bei seinem Bühnenweihfestspiel. Vor den blutverschmierten Lippen, die Schleef zu den Gralsrittern in den Sinn kamen, schreckt Laufenberg dann doch zurück. Trinken ja, aber besoffen sein, danke nein.

So eiert der Abend hin, zeigt einen rasanten Zoom aus der Kirchenkuppel ins All und weiter bis an die Grenze unseres Sonnensystems, während Wagners Verwandlungsmusik Zum Ort wird hier die Zeit erklingt. Plötzlich schwingt in ihr etwas imperial Sternenkriegerisches mit, das man so auch noch nie vermisst hatte. Das im Parsifal stets prekäre Hantieren mit Speeren, Trinkgefäßen und Kreuzen erlebt im zweiten Aufzug seinen unfreiwillig komischen Höhepunkt in Klingsors Zauberschloss: Auf einmal lässt der ewige Widersacher und Kreuzfetischist eine ganze Wagenladung des christlichen Symbols herniederregnen. Ein Kreuz aber muss sich dabei verklemmt haben – und erschlägt dann beinahe den nachrückenden Parsifal. Das sagt viel über den Reflexionsgrad der Regie, die die Blumenmädchen ungeniert in Bauchtanzkostüme steckt, denn Parsifal soll heuer im Hamam verführt werden. Kein Wunder, dass Klaus Florian Vogt erst mal im Wasserbecken untertaucht.

Die Regie enthemmt sich weiter

Doch es hilft nichts, die Regie enthemmt sich weiter, weil ihr ein starkes Schlussbild vorschwebt, etwas von Weltuntergang und Neubeginn, wie es sonst nur in der Götterdämmerung akzeptiert wird. Der Kirchenraum weitet sich, die Nebelmaschinen pumpen, plötzlich aufgelaufene Repräsentanten der monotheistischen Religionen werfen umstandslos die Attribute ihres Glaubens in Titurels Sarg. Und dann geht man durch den Nebel einer Zukunft entgegen, die weniger Religion wagt. Nicht, dass das kein hehres Ziel ist. Nicht, dass das nicht nach Bayreuth gehört. Doch das Wesen des Religiösen müsste jenseits vom Schauerkitsch schon ernst genommen werden, um hier auch ans Ziel gelangen zu können.

Kurz denkt man an Jonathan Meese, der ursprünglich einmal diesen Parsifal hätte inszenieren sollen. Bei ihm gäbe es keine kleinen blauen dirigierenden Plastik-Wagner am Grünen Hügel. Dafür überall schöne Wimpel und Standarten, seinen "Erzparsifal" feiernd. Vielleicht hätte sich Meese gar auf dem Balkon gezeigt und jenen Gruß entboten, über den Gerichte entschieden haben, dass er mit der Kunstfreiheit doch vereinbar ist. Wie aber soll man das der weltweiten Streaming-Community in diesem Jahr erklären? Meese in Bayreuth, das hätte die komplette Anarchie der Kunst werden können. Dazu fehlte offensichtlich der Mut. Der geschasste Künstler hat ihn im Übermaß bewiesen, als er Hitler die letzte gelungene Inszenierung am Grünen Hügel schimpfte.