«Verweile doch . . .!»

Die dritte Opernneuinszenierung in Salzburg, Charles Gounods «Faust», überzeugt durch grossartige Sänger – nach Welterklärung strebt Reinhard von der Thannen mit seiner Regie und Ausstattung nicht.

Michael Stallknecht, Salzburg
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O Margarethe, arme Blume, wüsstest du doch, wer dir da Haus und Bett belagert: Szene aus Reinhard von der Thannens «Faust»-Inszenierung. (Bild: Monika Rittershaus)

O Margarethe, arme Blume, wüsstest du doch, wer dir da Haus und Bett belagert: Szene aus Reinhard von der Thannens «Faust»-Inszenierung. (Bild: Monika Rittershaus)

Die Oper «Faust» von Charles Gounod wurde früher im deutschsprachigen Raum oft unter dem Titel «Margarethe» gespielt. Darin steckte ein Stück Wahrheit: die Erfahrung nämlich, dass Gounod bei seiner Bearbeitung des ersten Teils von Goethes «Faust» allen philosophischen Überbau verworfen hat, um aus der Gretchen-Tragödie eine sinnlich packende Oper zu machen. Es gibt innovativere, intellektuell faszinierendere Bearbeitungen des Stoffes, aber keine, die Goethes Figuren derart in ihrer menschlichen Essenz erfasst wie das dramaturgisch makellose Libretto von Jules Barbier und Michel Carré. Das gilt erst recht, wenn – wie nun bei den Salzburger Festspielen – eine Sängerin wie Maria Agresta die Figur verkörpert.

Melos statt Grübelei

Die italienische Sopranistin verfügt über eine Stimme von dunklem Samt, in der sich die Qualitäten eines echten Spinto-Soprans mit der nötigen Koloratur-Leichtigkeit verbinden. Damit erschafft sie ein Gretchen, dem von Beginn an ein melancholischer Kern innewohnt, eine fast Kierkegaardsche Existenzangst. Diese junge Frau weiss, dass es mit ihr niemals gut ausgehen kann, und deshalb rührt das naive Staunen, mit dem sie ihrem ersten und einzigen Liebesglück begegnet, ebenso wie später eine Verlassenheit, in die kein Mensch der Erde ihr folgen möchte. Agresta, mit den stimmlichen Möglichkeiten einer Primadonna gesegnet, ist – in diesen Zeiten höchst selten – eine echte Tragödin: Sie zeigt einen Menschen, der seinem Schicksal ohnmächtig ausgeliefert ist und gerade darin zuletzt seine eigentliche Kraft, eine das Menschliche übersteigende Autonomie findet.

Die vom Stück postulierte Erlösung gestattet ihr der Regisseur Reinhard von der Thannen im Grossen Festspielhaus dennoch nicht. «Rien», verkündet am Schluss ein neongreller Schriftzug, der schon zu Beginn das erste Wort aus Fausts Monolog unterstrichen hatte: «Nichts». Anders als der gläubige Katholik Gounod wickelt von der Thannen das religiöse Moment der Faust-Tragödie ab: Vor einer weissen Bühnenplastik, die an die Show-Aufbauten aus älteren Fernsehzeiten erinnert, verortet er das Stück in einem vagen Variété-Ambiente. Die Walpurgisnacht, Selbstfeier der höllischen Mächte, ist gestrichen, was gegen Ende des umfangreichen Stückes für Stringenz sorgt. Dass dem Mephisto des Ildar Abdrazakov dämonische Untertöne ebenso fehlen wie die Schwärze der Bassestiefe, erscheint da schon fast als Konzept. Besonders konsequent wird dieses Konzept freilich nicht umgesetzt, und neu ist die Idee vom Teufel im Variété nicht.

Reinhard von der Thannen, bisher vor allem als Bühnenbildner von Hans Neuenfels bekannt, bleibt auch als Regisseur in erster Linie Bühnenbildner. Er findet nicht zu einer Deutung, sondern erzählt die Geschichte in einer postmodernen, sich wild durch die Epochen stehlenden Ästhetik. Dabei aber gelingen ihm starke, sinnlich einleuchtende Bilder: etwa wenn Gretchen ihr getötetes Kind in einer Pappschachtel mit sich führt – als das kostbarste Geschenk ihres Lebens; oder wenn am Schluss das omnipräsente Tänzer-Ensemble (Choreografie: Giorgio Madia) grosse schwarze Schicksalskugeln durchs Bild rollt. Die Kostüme verleihen den Sängern hier mehr Statur als die nicht sonderlich raffinierte Personenregie.

Dafür gewinnt von der Thannen den grossen Ensembleszenen bildnerische Wirkungen ab, die nicht viele Regisseuren so präzis organisieren können. Da marschiert der Soldatenchor so trostlos wie treu gehorsam einem Skelett hinterher, und die Tänzer stecken die Beine unter Gretchens Bett hervor, als wollten sie es mit lasziver Erotik buchstäblich unterwühlen. Damit folgt diese Produktion durchaus Gounod, der dem schlagenden Einzelmoment und einem ins Herz treffenden Melos mehr vertraute als der Weltengrübelei seines Zeitgenossen Richard Wagner. Für das Melos sorgen an diesem Abend neben Agresta einige grossartige Sänger, allen voran Piotr Beczala als Faust.

Der polnische Tenor, obwohl eher vom italienischen Fach kommend, erfüllt das französische Idiom mit perfektem Stilempfinden. Makellos leicht führt er seine Stimme durch das heikle Passaggio in eine schlanke, geschmackvoll nasalierte Höhe. Alexey Markov, mit seinem russischen Prachtbariton ein Inbegriff von Männlichkeit, ersingt dem Valentin die Ehrenhaftigkeit, die man der Figur angesichts ihres Handelns absprechen möchte. Marie-Ange Todorovitch gurrt als Frau Marthe mit sattem Mezzo, während Tara Erraught in der zweiten Mezzo-Rolle des Siebel das anrührende Porträt eines Teenagers zwischen Unsicherheit und Selbstbehauptungswillen zeichnet.

Der sinnliche Augenblick

Freilich trägt der Dirigent die Sänger auch auf Händen durch den Abend: Alejo Pérez nimmt sich Zeit, wählt gerade zu Beginn eher langsame, aber nie ziellose Tempi. In Bewegung hält er sie mit feinen Übergängen und einer einleuchtenden Agogik, die bei den Wiener Philharmonikern zu einigen Unsicherheitswacklern führt. Dafür lässt Pérez die Samtfarben der Wiener in einem Trennklang zu Geltung kommen, der vom französischen Willen zur Clarté geprägt ist. Dem Philharmonia-Chor Wien fordert Pérez eine grosse dynamische Bandbreite ab, und die schmissigen Orchesterstellen organisiert er nicht als Überwältigungsmaschinerie, sondern trocken pointiert und mit punktgenauem Schlagzeugeinsatz. Erst in den beiden Schlussakten lässt er sich gelegentlich zum melodramatischen Breitwandformat hinreissen. Doch mehr als auf das grosse Drama setzt er auf Atmosphäre, die den einzelnen Augenblick sinnlich wirken lässt. Darin trifft er sich mit der Regie, die am Ende beim Publikum zwischen Buh- und Bravo-Rufern heftig umstritten ist. In der Tat: Dieser Abend erhebt keinen Welterklärungsanspruch, er ist nur Oper. Aber grosse Oper.