Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Verschenkter Grusel

THE TURN OF THE SCREW
(Benjamin Britten)

Besuch am
11. September 2016
(Premiere am 10. September 2016)

 

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Es gibt kaum einen Komponisten, vor allem der jüngeren Musikgeschichte, dessen gewaltiges Opernschaffen in den Theatern des Rheinlands eine so aufmerksame und qualitativ hochwertige Aufmerksamkeit genießt wie das Benjamin Brittens. So unterschiedlich die Qualitätskurven der zahlreichen Häuser an Rhein und Ruhr in den letzten Jahren verlaufen sind. Ob Düsseldorf, Köln oder Aachen: Die Werke des früh verstorbenen Meisters erfahren rundum geglückte Inszenierungen. Und zu einer Hochburg in Sachen Benjamin Britten hat sich das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier entwickelt. Dessen Neuproduktionen von Peter Grimes, Death in Venice und A Midsummer Night’s Dream dürfen als Modell-Interpretationen gelten.

Jetzt setzt das Haus den Zyklus mit Brittens Kammeroper The Turn of the Screw – Die Schraube des Schreckens – nach einer Erzählung von Henry James fort. Auf den ersten Blick eine sehr britische Schauergeschichte, die in den Inszenierungen von Immo Karaman an der Deutschen Oper am Rhein und von Benjamin Schad in der Kölner Trinitatiskirche Gänsehaut erzeugten. In Gelsenkirchen setzt man auf eine blutjunge Crew mit einem szenischen Team der Hochschule Weimar. Und das geht sehr ambitioniert vor, verschenkt aber die Chance, die „Schraube des Schreckens“ bis zum Anschlag zuzudrehen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Handlung: Eine Gouvernante soll sich um zwei Kinder in einem abgeschiedenen Schloss kümmern, die offenbar unter dem Einfluss eines verstorbenen Dienerpaars stehen. Die fröstelnde Anwesenheit der „Geister“ setzt bei der Gouvernante eine „Schraube der Angst“ in Bewegung, die letztlich in eine Katastrophe führt.

Foto © Pedro Malinowski

In seinem 1954 uraufgeführten Werk schlägt Britten so filigran feine Töne an, dass ein Psychogramm der Angst entsteht, das weit über plakative Gruseleffekte hinausreicht. Britten, nach eigenem Zeugnis selbst ein Vergewaltigungsopfer in der Schulzeit, findet gerade für die Ängste und Irritationen der bedrohten Kinder Klänge differenziertester Feinarbeit.

Die junge Regisseurin Rahel Thiel geht mit wenig aufgesetztem Aufwand, aber ausgefeilter Detailgenauigkeit auf das Vexierspiel zwischen Realität, Scheinwelt und Angstträumen ein. Sie stellt auch die beiden Kinder in den Mittelpunkt, die elternlos aufwachsen, vom Onkel in die Hände einer Gouvernante übergeben werden und mit der geheimnisumwitterten Vergangenheit eines verstorbenen Dienerpaars leben müssen. Die Gefährdung der kindlichen Unschuld wird spürbar, auch wenn Britten die inzestuösen Interessen oder Beziehungen der Erwachsenen zu den Kindern sehr subtil andeutet. Doch gerade diese Alarmzeichen lässt Thiel ungenutzt. Ihr reicht es, die Kinder vom gespensterhaften Geisterbahn-Look des Dienerpaars in Angst versetzen zu lassen. Die packende, sich allmählich zuspitzende Bedrohung wird so entschärft und letztlich ein wenig banalisiert.

Lisa Schoppmann und Frederike Malke begnügen sich für ihr Bühnenbild, völlig ausreichend, mit einem Bett auf der linken und einem drehbaren Kubus mit einer verschachtelten Treppenlandschaft auf der rechten Seite. In der Mitte ist das dreizehnköpfige Orchester postiert, das mit seinem Aktionismus freilich von der auf ruhige Tempi und Bewegungspausen bedachten Personenführung ablenkt.

Valtteri Rauhalammi spürt mit den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen den unterschwellig bis heftig brodelnden Fieberkurven der Partitur sorgfältig nach. Vokal bewegt sich die Produktion auf hohem Niveau. Die anspruchsvolle Knabenrolle des Miles ist mit Jonas Hübner glänzend besetzt, wobei die Rolle für die künftigen Aufführungen gleich vierfach besetzt ist. Die Darstellung der Schwester Flora gestaltet Judith Caspari vom Jungen Ensemble des MiR mit gesunder Stimme als eine zwischen Unschuld und Laszivität changierende Teenager-Studie. Vorzüglich das eindringliche Seelenportrait der zwischen Unsicherheit, Einsamkeit, Neugier und Begierde schwankenden Gouvernante durch Alfia Kamalova mit ihrem lediglich in den Spitzentönen unangenehm hart ansprechenden Sopran. Cornel Frey und Petra Schmidt als gespenstisches Dienerpaar und Noriko Ogawa-Yatake als Haushälterin entsprechen dem hohen Standard der Gelsenkirchener Britten-Produktionen.

Viel Beifall für einen leisen, unspektakulären und dennoch unter die Haut gehenden Abend.

Pedro Obiera