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Kultur „Faust“ – famos

Bei Stalingrad ist der Teufel los

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Heinrich, mir graust vor deinen Hostenträgern: Atalla Ayan als Faust und Mandy Fredrich als Margarethe in Castorfs Stuttgarter Inszenierung Heinrich, mir graust vor deinen Hostenträgern: Atalla Ayan als Faust und Mandy Fredrich als Margarethe in Castorfs Stuttgarter Inszenierung
Aus denen wird kein Paar: Atalla Ayan (Faust) und Mandy Fredrich (Margarethe) in Frank Castorfs "Faust"-Inszenierung
Quelle: Thomas Aurin
Auf einen Schluck Schlafmittel mit Gretchen, der Bordsteinschwalbe: Der Volksbühnen-Grande Frank Castorf inszeniert schon wieder Oper – Gounods „Faust“ in Stuttgart. Mit Krokodil, Witz und Nostalgie.

Ist der Operseitensprung der Alterssex angejahrter Theaterregisseure? Frank Castorf hat es jedenfalls schon wieder getan. Nach seinem Baseler „Otello“ 1998 hatte sich der heute 65-Jährige noch 15 Jahre Reifezeit gelassen bis zum immer noch wild umstrittenen Bayreuther „Ring des Nibelungen“ von 2013.

Dort ist die Tetralogie noch nicht einmal abgespielt, da geht er jetzt, während er diese Saison an der Berliner Volksbühne als Intendanten-Grande in die Zielgerade einbiegt, an der Stuttgarter Staatsoper bereits mit Gounods „Faust“ metierfremd. Die nächste Verabredung mit der Oper hat er am Münchner Nationaltheater mit Janáceks „Aus einem Totenhaus“.

In Schwaben war auch das Grüner-Hügel-bewährte Ausstattungsduo dabei: Aleksandar Denic baute einen detailfummeligen Drehbühnenirrgarten, Adriana Braga Peretzki lieferte tolle Trash- und Glamourkostüme. Seinen wirren Dramaturgen Carl Hegemann hat er nun zum Glück durch die aufgeräumte, zielsichere Ann-Christine Mecke ersetzt.

Mit Wumms, Nostalgie und schrägem Chic

In Deutschland hielt man ja früher Charles Gounods mit viel Weihrauch durchwehte und noch mehr Himbeersirup übergossene Grand-Soap-Opera für so peinlich, dass man die freilich doch leckere Liebesgeschichte mit elegantem Teufelchen nach Goethe als guilty pleasure hinter dem unverfänglichen Titel „Margarethe“ versteckte. Castorf aber verpflanzt diesen „Faust“, aus der komplexen Entstehungsgeschichte gar nicht blöd abgeleitet, auf den Pariser Boulevard. Mit Wumms, mit viel Nostalgie und schrägem Chic.

Das hell leuchtende Bistro an der windigen Hausecke, wo die Preise noch in Franc angeschrieben sind, könnte auch gleich zum Ankerplatz für die Bordsteinschwalbe Irma la Douce nach getanem Nachtflug werden. Doch hier nimmt später die offenbar in einem Pigalle-Revuetheater als Bauchtänzerin engagierte Margarethe in Pailettenarbeitskleidung vor einem Crémant Platz.

Am Ende sitzt die Blondine wieder da. Dann aber haben Kleidung und Make-up sichtlich gelitten. Sie hat ihr Kind getötet, den Geliebten an den Teufel verloren und nun genug von all dem Erlösungsmelodiemist, der um sie herum flötet. Entschlossen kippt sie sich, selbst ist die Frau, ein Gläschen Barbiturat ins Blubberwasser.

Wo sich der Teufel an Brigitte Bardot reibt

Schon klar, ganz so rückwärtsgewandt entspannt, wie es der Sixties-Anfang vermuten lässt, bleiben diese kaum gekürzten, moderat umgestellten, großartigen Opernstunden nicht. Ein wenig sarkastische Botschaft hat Castorf doch, Algerienkrieg und so. Kolonialismus, böser Rassismus, wie er sich hier zwischen abgeschlagene dunkelhäutige Köpfe schwenkenden Flics zum notorisch denunzierten Soldatenchor unter der grün blinkernden Leuchtschrift „Café Or Noir“ ereignet.

Während der offenbar einen Voodoo-Laden betreibende Mephisto (konzentriert bassröhrend, mit Knickzylinder, Bocksfüßen und haarigem Unterleib herrlich entertainend: Adam Palka), vor allem sein Herz nach blonden Frauen verzehrt, wie uns der erste Videoclip von ihm offenbart: Da streichelt er ein „Paris Match“ mit der jung erblühten Brigitte Bardot auf dem Titel.

Vieles auf dieser Suche nach dem Ewigweiblichen kennen wir schon. Die Bayreuther „Götterdämmerung“-Dönerbude ist jetzt das Café, die Leinwand für die klug getakteten Livevideoeinblendungen lässt sich an einem Laternenpfahl mitschwenken. Aus dem S-Bahnhof Alexanderplatz des „Siegfried“ wurde die Metrostation Stalingrad, wo es (da freut sich der flunkernde Castorf!) sogar einen Ausgang Rue Maxim Gorki gibt. Und sogar das bei den Festspielen immer ausgebuhte Krokodil ist wieder da – auf einem der vielen Plakate, die auch obskure Horrorfilme und politische Agitationen anpreisen.

Staatsoper Stuttgart, "FAUST" von Charles Gounod, Premiere: 30.10.2016, Musikalische Leitung: Marc Soustrot, Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Lothar Baumgarte, Video-Liveschnitt: Martin Andersson, Chor: Johannes Knecht, Dramaturgie: Ann-Christine Mecke, mit: Faust: Atalla Ayan, Mephistopheles: Adam Palka, Valentin: Gezim Myshketa, Wagner: Michael Nagl, Margarethe: Mandy Fredrich, Siebel: Josy Santos, Marthe Schwerdtlein: Iris Vermillion, Mit: Staatsopernchor Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart Copyright (C) Thomas Aurin Gleditschstr. 45, D-10781 Berlin Tel.:+49 (0)30 2175 6205 Mobil.:+49 (0)170 2933679 Veröffentlichung nur gegen Honorar zzgl. 7% MWSt. und Belegexemplar Steuer Nr.: 11/18/213/52812, UID Nr.: DE 170 902 977 Commerzbank, BLZ: 810 80 000, Konto-Nr.: 316 030 000 SWIFT-BIC: DRES DE FF 810, IBAN: DE07 81080000 0316030000
Auf der Flucht vor der Videokamera: Adam Palka als Mephistopheles in der "Faust"-Inszenierung von Frank Castorf in Stuttgart
Quelle: Thomas Aurin
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Gretchen (die so naiv wie raffiniert mit kompaktem Sopran singende Mandy Fredrich) wohnt pittoresk in der Boheme-Mansarde über einem in sich selbst spiegelnden Coca-Cola-Schriftzug. Ihre farbige lesbische Verehrerin Siebel (meozzoschmeichelnd: Josy Santos), die zwischendurch immer mal wieder Rimbaud- und Verlaine-Fragmente so didaktisch wie dialektisch rezitiert (ebenso auch die verrutsche Frau Marthe der feinen Iris Vermillion), schläft darunter in einer leer stehenden Metzgerei. Virtuos kriechen da die Kameras von Tobias Dusche und Daniel Keller noch in die engsten Winkel und behalten auch in den Massenszenen den ordnenden Überblick.

Zum als dramatische Melo-Action inszenierten Sterben des vom Teufel abgestochenen starr konservativen Bruders Valentin (so grob wie genüsslich: Gezim Myshketa) geht es in eine Telefonzelle, wo man der gefallenen Schwester hinter der Glasscheibe ein letztes Mal die blutige Hand entgegenstreckt. Und über allem thront, samt dämonischen Wasserspeiern, ein Turm von Notre-Dame für die große Sünderin in der kerzenumflackert scheinheiligen Kirchenszene. In der der aufgeräumte, differenzierende, rhythmisch pikante Marc Soustrot am Staatsorchester-Pult es besonders wohlig wabern lässt.

Nicht nur klanglich abwechslungsreich ist das Grand Guignol und schmissige Schaubude, Hexentanz und Studentenbesäufnis, große Walzereinlage als Fest für den klasse Stuttgarter Opernchor und selig-süßes Liebturteln zu zweien. Castorf genießt sichtlich den faulen Zauber der sämig-süffigen, meisterlich modellierten Partitur.

Hier relaxt die Regie

Hier muss er keine Zwanzig-Minuten-Monologe wie bei Wagner mürrisch überbrücken, hier dürfen sich die Solisten generös zu ihren Wunschkonzert-Glanznummern (Valentins Gebet! Margarethes Juwelenarie! Fausts Naturanrufung!) auch mal an der Rampe aufpflanzen – die nächste Partie kommt ja in Kürze. Die Regie lässt es relaxed laufen, hebt manchmal augenzwinkernd den linkspädagogischen Zeigefinger und freut sich über die unvermindert manipulative Kraft dieses eben doch unsterblichen Werkes.

Das hier in Stuttgart – man hat ja einen eben erneuerten Ruf als Opernhaus des Jahres zu verteidigen – auf ganzer Linie und mit ideal vereinigten Ensemblekräften veredelt wird. Was richtig guttut nach der überteuerten, unterbesetzten, strunzlangweiligen „Faust“-de-Luxe-Einsargung bei den diesjährigen Salzburger Festspielen.

Ein Naturbursche an der Seine

Nur noch unregelmäßig der schwäbischen Opernmanufaktur verbunden, setzt sich der brasilianische Tenor Atalla Ayan in der Titelrolle mit honigleuchtendem Timbre an die Spitze des fabelhaft geschlossenen „Faust“-Ensembles. So einer kruschtelt nicht lange als lebensmüder Clochard, dafür ist seine Starqualität als exotischer Naturbursche mit perfekt verblendeten Registern zu einsichtig. Kein Wunder, dass ihn jetzt Sony Classical zu CD-Ehren kommen lässt.

Und für Castorf ist noch lange nicht finito mit „Faust“. Da folgt an der Berliner Volksbühne noch diese Spielzeit als Finale der Sprechtragödie zweiter Teil. Wetten, dass der nicht nach dreieinhalb Stunden partiturgerecht vorbei ist?

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