«Zu mir die Kraft mächtiger Triebe»

Frank Castorf versetzt Gounods Oper «Faust» in die Mitte von Paris. Der scheidende Intendant der Berliner Volksbühne schafft damit einen starken Saisonstart am frisch gekürten «Opernhaus des Jahres».

Tobias Gerber, Stuttgart
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Kein Anschluss unter dieser Nummer: Atalla Ayan sorgt sich als Titelheld in Gounods Oper «Faust» mehr um seinen Trieb als um Erkenntnis. (Bild: Thomas Aurin)

Kein Anschluss unter dieser Nummer: Atalla Ayan sorgt sich als Titelheld in Gounods Oper «Faust» mehr um seinen Trieb als um Erkenntnis. (Bild: Thomas Aurin)

Was die Welt im Innersten zusammenhält – Gounods Faust interessiert es nicht. Ganz im Gegensatz zu seinem nach Erkenntnis dürstenden Vorbild bei Goethe ist es nicht die ausbleibende Einsicht in die grossen Zusammenhänge, die Fausts Schwermut im Alter nährt, sondern der ermattete Trieb, der das einst genussfreudige und konsumgeneigte Leben des Opernhelden zur Qual macht. Das Fleisch kann nicht mehr, möchte aber gerne wieder ­– und wie der deutsche Gelehrte beim Mephistopheles zu finden glaubt, was er begehrt, so tut es auch der französische Schwerenöter.

Es sind aber nicht nur Fausts Beweggründe, in denen sich Gounod von Goethe entfernt. Die 1859 in einer ersten Version am Pariser Théâtre Lyrique uraufgeführte Oper beschränkt sich auf die Tragödie der Margarethe und damit auf einen Strang des Ideendramas: Philosophiert wird hier wenig, und ein Gott, der mit dem Mephisto um Faustens Seele wetten könnte, ist auch nicht da. Menschlich-allzumenschlich geht es hier zu, so könnte man meinen, doch das Unglück wird dadurch, wie es scheint, nicht geringer.

Atmosphärische Bühne

Frank Castorf, der seine Zeit als Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in der laufenden Spielzeit mit einer Inszenierung von Goethes «Faust II» beschliessen wird, platziert das Geschehen der Oper in die Mitte von Paris. In der dichten und opulenten Kulissenarchitektur von Aleksandar Denić, der bereits die wimmelbunten Bühnenbilder zu Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung entwarf, verschachteln sich auf einer Drehbühne mehrere Schauplätze ineinander: die Pariser Metrostation «Stalingrad», ein heruntergekommenes Quartier mit Kneipe, Telefonkabine und der Wohnung Margarethes, eine vergammelte Ecke – überdacht und durchaus auch als Nachtquartier für verlorene Seelen denkbar; und über allem stetig thronend Notre-Dame.

Das ist nicht nur ein atmosphärisch starker Schauplatz für die Handlung, es markiert ebenso eine Lesart des Stücks: «L'Algérie est française» wird später blutrot an eine Wand von «Stalingrad» gepinselt werden, nur um ein weiteres Mal auf eine der geografischen, zeitlichen und ideologischen Achsen zu verweisen, an denen sich Castorf bei seiner «Faust»-Deutung entlanghangelt. Diese reichen vom Entstehungskontext der Oper über den verlorenen Deutsch-Französischen Krieg bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Pariser Kommune, Aufstieg und Fall der Kolonialmacht Frankreich; Rimbaud, der Gedichte über die Demokratie schreibt und kurz darauf als Waffenhändler nach Afrika aufbricht, Indochina, Nordafrika und vieles mehr.

Am Schnittpunkt all dieser Linien: Paris. Während Gounod und seine Librettisten ihren «Faust» aus der Weltgeschichte in die Innenräume des im Entstehen begriffenen Drame lyrique versetzen, katapultiert Castorf seine Figuren zurück in die Konfliktzonen der französischen Geschichte, was hier heisst: in die Welt eines explodierenden Kapitalismus, der sich als Demokratie camoufliert. Und wo eine fast unlesbar in sich gespiegelte «Coca-Cola»-Leuchtschrift fratzenartig blinkt, da frönen die Protagonisten rückhaltlos ihrer Lust.

Hinreissender Teufel

Dass dies in der faustischen Welt ohne einen Mephistopheles nicht möglich wäre, versteht sich von selber. In der Stuttgarter Inszenierung, der ersten Opernarbeit Castorfs an dem Haus, spielt er denn auch eine gewichtige Rolle – eine hinreissende zumal! Schlaksig nonchalant umgarnt Adam Palka die verdammten Menschenkinder, einmal bocksfüssig, dann mit Federschmuck, als Voodoo-Priester oder mit schwarzem Zylinder (Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Dunkel ist auch Palkas Bass, mit dem er seiner Figur die entsprechend finsteren Züge ebenso verleiht wie jene schelmische und schalkhafte Seite, die diesen Teufel den Menschen im lustigen Treiben des Konsums letztlich sehr ähnlich macht.

Palka weiss auch mit dem medialen Arrangement der live gefilmten Videoprojektionen souverän umzugehen. So lebt seine Figur gleichermassen von einer starken musikalischen Interpretation wie vom mimischen Spiel in der Grossaufnahme. Gekonnt changiert auch Mandy Fredrich als Margarethe zwischen berechnendem Materialismus und verletzlicher Emotionalität. Mit lebendigem und wendigem Sopran, augenzwinkerndem Spiel mit der Kamera und einer markanten Bühnenpräsenz zeichnet sie ihre Figur bis zum Schluss mehrdeutig. Selbst im Moment des tödlichen Schluckes aus dem Champagnerkelch hallt noch jene rhetorische Frage aus dem dritten Akt nach, als sie sich im Spiegelboden der Schmuckschatulle sieht: «Wie sollte man da nicht kokett sein?»

«Opernhaus des Jahres»

Zu diesen starken Figuren gesellt sich musikalisch griffig Atalla Ayan als Titelheld mit warmem und kräftigem Tenor. Und als Gegenstück zum dichten Bühnengeschehen lässt das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Marc Soustrot immer wieder mit differenzierter Klanglichkeit und dynamischem Vorwärtstrieb aufhorchen. Für die vergangene Saison wurde die Oper Stuttgart zum «Opernhaus des Jahres» gekürt. Der Start in die folglich besonders kritisch beäugte Bewährungszeit in der neuen Saison ist fulminant geglückt!