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Gounods „Faust“ an der Oper Stuttgart: Musikalisch überragend, szenisch überfrachtet

Kultur / Lesedauer: 4 min

Gounods „Faust“ an der Oper Stuttgart: Musikalisch überragend, szenisch überfrachtet
Veröffentlicht:01.11.2016, 19:42

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Rauschenden Applaus gab es für Gesangssolisten, Chor, Orchester und den Dirigenten Marc Soustrot nach der Premiere der spektakulären Neuinszenierung von Charles Gounods Fünfakter „Faust“ an der Staatsoper Stuttgart . Das Regieteam von Frank Castorf erhielt ebenfalls viel Beifall, musste aber auch massive Buhrufe einstecken. Das samt Pause mehr als dreieinhalbstündige, mit Bildern und Deutungsverweisen überfrachtete Bühnengeschehen ermüdete auf Dauer. Musikalisch hingegen gelang eine überragende Aufführung.

Die anspruchsvolle Titelpartie bewältigt Atalla Ayan glänzend. Seine Tenorstimme ist kraftvoll, schlank und geschmeidig. Leider verliert er vorübergehend die Kontrolle über die Intonation. Als Faust kommt er zu Beginn daher wie ein gebrechlicher Clochard, ein taumelnder Tippelbruder und Säufer kurz vor dem Herzinfarkt. Mit einer Zeitung über dem Kopf sucht er Zuflucht vor dem „Café Or Noir“. Die Bar liegt gleich neben dem Eingang zur Métro-Station „Stalingrad“, wo es aus U-Bahn-Schächten qualmt wie aus der Unterwelt.

Méphistophélès beißt zu

Kein Wunder, dass sich Méphistophélès grade an diesem nach einer Schlacht benannten Platz herumtreibt. Man sieht ihn als Magier mit Zylinder schon herumwerkeln, bevor Faust ihn bemerkt. Adam Palka singt den dämonischen Verführer mit profundem, beweglichem Bass und spielt ihn als virilen, elegant agierenden Tausendsassa. Als Stadtindianer mit Federkopfschmuck zelebriert er im Hinterzimmer schamanistische Rituale mit Stoffpuppen und Nadeln. Auch Widderhörner, Ziegenbeine oder das Gehabe eines Halbweltgauners und Zuhälters hat er im Repertoire.

Faust macht keinen Stich gegen diesen Zyniker. Ein vampirhafter Biss des dubiosen Kerls verleiht dem alten Grübler strotzende Kraft, als habe er wie Obelix einen Zaubertrank bekommen. Mandy Fredrich überzeugt als Marguerite mit strahlkräftiger, souverän geführter Sopranstimme. In dieser Inszenierung ist sie freilich kein unerfahrenes, tugendhaft schüchternes Gretchen, sondern eine Frau mit Vergangenheit, geschminkt und aufgetakelt wie eine Prostituierte.

Sonore vokale Präsenz bietet der Bariton Gezim Myshketa als Marguerites Bruder Valentin. Hier muss er freilich unversehens von Gounods bravem Soldaten zu einem selbstgerechten nationalistischen Kriegsverbrecher im Castorf-Kontext mutieren. Ähnlich fern von der Vorlage begegnet uns sein Freund Siébel bei dieser Produktion als heimlich in Marguerite verliebte Lesbe. Der exzellenten brasilianischen Mezzosopranistin Josy Santos glückt gleichwohl ein brillantes Porträt der zeitgeistig modifizierten Hosenrolle.

Iris Vermillion, als Marthe eine opiumrauchende Hippie-Frau, und Michael Nagl (Wagner) komplettieren das ausgezeichnete Solistenensemble. Der von Johannes Knecht perfekt einstudierte Chor meistert seine Aufgaben großartig. Das Orchester spielt unter Soustrots Leitung kultiviert, lässt sich aber bei Massenszenen zu übermäßiger Lautstärke hinreißen. Bühne (Aleksandar Denic), Kostüme (Adriana Braga Peretzki) und die subtile Lichtregie (Lothar Baumgarte) versprechen zunächst eine atmosphärisch packende Szenerie.

Über der U-Bahn-Bar ragt eine gotische Kirche mit fratzenhaften Wasserspeiern auf. Links steht eine alte Telefonzelle, rechts ein Cola-Automat. Hier könnte sich eine spannende Tragödie abspielen. Aber Castorf vertraut seinem Setting und der Wirkung von Gounods Musik nicht und legt flächendeckend nach. Permanent gezeigte zusätzliche Videofilme führen zu einem optischen Overkill. Lästig zwischen den Akteuren herumwuselnde Kameramänner bringen noch mehr Unruhe ins Spiel und produzieren eine inflationäre Bilderflut.

Hier fühlt man sich, als ob man in der Oper sei und gleichzeitig im Kino. Manchmal laufen sogar wie im Internet zwei oder drei Filme parallel, wird auf mehreren Leinwänden zwischen ihnen hin und her gezappt. Nebenher nimmt man ergänzend noch an Volkshochschulkursen über französische Kultur- und Kolonialgeschichte oder über subversive Literatenzirkel teil. Castorf hat alles auf die Oper draufgepackt, was ihm dazu einfiel. Die Regie-Zaunpfähle kann man gar nicht zählen, mit denen hier gewunken wird. Selbst reine Instrumentalstücke werden buchstäblich zugetextet mit Gedichten von Rimbaud und Statements zu den Gräueln des Algerienkriegs. Filmbilder abgeschnittener Rebellenköpfen erteilen Nachhilfe in Sachen naiver Patriotismus. Die Musik wird dadurch in den Hintergrund gedrängt. Abweichend von Gounods christlich konnotierter Oper ist Méphistophélès bei Castorf allzu dominant. Am Ende darf Marguerite nicht auf die Rettung ihrer Seele hoffen. Sie begeht Selbstmord – als „Erlösung“ vom Elend des Lebens.

Weitere Vorstellungen: 3., 6., 11. und 17. November, 16., 21. und 30. Januar; Information und Karten: www.oper-stuttgart.de