Um die berufliche Zukunft von Frank Castorf (65) muss man sich keine Sorgen machen. Einen Job als Opernregisseur dürfte der Theatervirtuose allemal finden, nach seinem Stuttgarter Faust von Charles Gounod ist dies sicher. Wobei: Die Hardcore-Castorf-Fans, die auf eine seiner legendären (oder gefürchteten) Dekon struktionen erpicht sind, müssen stark sein – allen anderen dürfte das Herz aufgehen. Denn hier wird nichts zertrümmert, verbogen oder gegen die Musik gestellt.

Castorf, der kommende Woche in Wien mit dem Nestroy fürs Lebenswerk ausgezeichnet wird, macht das Gegenteil: Er lotet das Stück in einer Tiefe aus, vor der sich viele herumdrücken. Er entfaltet einen geradezu subtilen Humor, macht seinen Teufel nicht zu einem plumpen Verführer und Possenreißer des Bösen, sondern zu einem Flaneur durch die Abgründe des Menschlichen, von denen er eine ganze Menge weiß. Dabei setzt er seine bewährten Mittel wie die Live-Übertragung von auf der Bühne nicht sichtbaren Szenen oder von Nahaufnahmen so souverän ein, dass sie nie aufgesetzt wirken, vielmehr zusätzliche Dimensionen eröffnen.

Dazu gehört auch, dass er verschiedene Zeitebenen (von der Entstehungszeit der Oper bis zur Zeit des Algerienkriegs ein Jahrhundert später) nicht einfach durcheinanderwirbelt, sondern inhaltlich miteinander verschränkt.

Wo Paris entsteht

Die ansonsten fabelhafte Stuttgarter Bühnentechnik kam mit den in die Szene gehängten Projektionsleinwänden zwar noch nicht ganz hinterher. Aber das wäre auch schon der einzige Einwand, den man zu diesem Abend der Verführung zu einem Faust a la Parisienne machen könnte. Was der Bühnenbildner Aleksandar Denić (für das Castorf-Theater ein Glücksfall!) drauf hat, weiß man seit dem Bayreuther Ring. Aber wie er hier Paris auf einen optischen Nenner bringt, das ist so etwas wie ein kleines Wunder.

Ein "Faust"-Wunder der opernhaften Art – in Stuttgart mit auch räumlich interessanten Ansichten
Foto: Thomas Aurin

Über neun Meter hoch ist der Turm, der mit seinen Wasserspeiern an Notre-Dame erinnert. Zudem wären da ein Bistro, die Metrostation Stalingrad (vom Soldaten Valentin blutrot mit "L’Algérie est française" übermalt). Und über dem Eingang zur einer Schlächterei leuchtet ein gedoppelter Coca-Cola-Schriftzug feuerrot wie ein teuflisches Ornament – hier gibt’s die Walpurgisnacht.

Es ist ein Paris im Sepia-Dämmern, wie es sich in Träumen von dieser Stadt in Erinnerung bringt. Es ist eine opulente Verführung, in der sich alle Schauplätze mühelos imaginieren lassen.

Wir sehen Margarethe oben hinter ihrer Dachgaube und mit dem Schmuck in Großaufnahme. Wir sind gleichsam live und in Großaufnahme dabei, wenn sich Frau Schwertlein den Teufel angeln will oder wenn der das Gesicht verzieht, wenn Faust und Grete sich in der Liebesnacht anschmachten. Als die Soldaten dann mit erheblichem musikalischem Pomp den Krieg feiern, marschieren die Legionäre mit abgeschlagenen Köpfen auf. Im Film sieht man aus der Opferperspektive in den Lauf einer Waffe, sodass einem ganz anders wird.

Mitreißender Sound

Aber alles, was man sieht, hört man auch. Am Pult sorgt Marc Soustrot nicht nur für einen mitreißenden Sound. Stuttgart bietet ein Ensemble auf, dass man sich besser kaum wünschen kann. Das fängt bei der dramatisch präsenten Frau Marthe von Iris Vermillion und Josy Santos als Gretchen-Verehrer Siebel an.

Mandy Fredrich durchmisst vokal bestechend und darstellerisch hinreißend die ganze Tragödie einer jungen Frau, die am Ende, nach allem gerichtet und gerettet, im Bistro allein und verlassen Tabletten in ihr Glas schüttet und uns über ihr Schicksal im Unklaren lässt. Mit wunderbar geschmeidiger Höhe glänzt Atalla Ayan als smarter Faust-Hallodri. Dass der Teufel allemal die besten Darstellerkarten hat, beweist Adam Palka mit jedem Ton, jeder Grimasse, ob nun im Nadelstreif, in Uniform oder halbnackt.

Sie alle sind Teil eines Faust-Wunders, das man so opernopulent und gesamtkunstwerksubtil dann doch nicht erwartet hatte. Das Publikum lieferte die paar Sekunden Ergriffenheit vor dem Unisono-Jubel, der dem Regisseur etwas unheimlich zu sein schien. (Joachim Lange, 1.11.2016)