Es ist etwas passiert in München. Ein dreifacher Mord auf offener Bühne. Eigentlich ein vierfacher, wenn man den Selbstmord der Kaufmannsgattin Katerina Ismailowa, der Ursache allen Ungemachs, mal großzügig mitrechnet.
„In der Oper wird ja grundsätzlich ganz gern mal gestorben. Das hat sich irgendwie bewährt“, erklärt der für Mord in München zuständige „Tatort“-Kommissar, der im normalen Leben Udo Wachtveitl heißt, in einem Videoblog der Bayerischen Staatsoper zu Harry Kupfers Neuinszenierung von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“.
Aber, und da hat er jetzt mehr Recht, als er wahrscheinlich meint, „was in diesem Stück passiert, ist schon starker Tobak.“
Vom Christkindlmarkt in einen Totentanz
Darauf wollte man ein bisschen vorbereiten. Schließlich ist Weihnachtszeit. Die Leute kommen, die Nase voll Glühweinduft, das Herz voll Friedfertigkeit vom Christkindlmarkt, in das Gemetzel von Mzensk, in einen anschwellenden Totentanz.
Fünf Videoblogs sollten also den Toback kommensurabler machen. Es darf – wie beim „Tatort“, aber hoffentlich nicht während der Aufführung, getwittert werden unter #aktemzensk, ein Hashtag, auf den man bei Twitter erstmal kommen muss (#ladymacbeth war vergeben und versammelt ziemlich obskures Zeug). Richtig nötig war das allerdings nicht.
Es fließt ja nicht mehr Blut als in einem gewöhnlichen Schwedenkrimi am Sonntagabend in diesem neben den beiden anderen Frauenuntergangsopern, neben Bergs „Wozzeck“ und Zimmermanns „Soldaten“, vielleicht bedeutendsten Stück Musiktheater, das vom vergangenen Jahrhundert übrig ist. Es gilt auch keine allzu komplexen Handlungsstrukturen zu entwirren.
Was geschehen wird im Haus der Ismailows im großen öden Irgendwo der russischen Landlangeweile, wie es geschehen wird, erklärt der Text in geradezu schonungsloser Offenheit rechtzeitig selbst.
Auch das Geheimnis, warum es geschieht, warum sie folgerichtig zur Mörderin wird, diese intellektuell unterforderte, sexuell unausgelastete Frau, die es dank eines augenscheinlich zeugungsunfähigen Gatten auch nicht zur Mutterschaft gebracht hat, bleibt keine Arie lang eins.
Harry Kupfer tut alles, dass man das auch merkt und dass es so bleibt. In einer postapokalyptischen Industriehalle, aus der die Maschinen lang schon entfernt wurden, spielt sich die Tragödie der Katerina Ismailowa, die sich, kaum hat sie ihre Frustration an die Wände ihres kargen Zimmers gesungen, in die Arme des nächstpotentesten Vorarbeiters wirft.
Die Polizei kommt aus dem Untergrund
Gestänge, Leitern, metallene Laufstege, ein Raum mit einem Bett aus Paletten in der Mitte, den man nach oben fahren lassen kann, wenn Bedarf herrscht für Platz auf der Bühne. Die Polizei wird nachher aus dem Untergrund gefahren, da wo sie ja auch hingehörte. Damals. In Russland. Vor der Revolution.
Am Ende, wenn es keinen Ausweg mehr gibt, außer sich den Pfad nach Sibirien weiterzuschleppen, führt einer dieser metallenen Laufstege wie eine Planke über den Fluss. Da weiß man gleich, wenn der Vorhang hochgeht, wo alles endet. Und kann sich auf anderes konzentrieren.
Harry Kupfer setzt die Geschichte genau auf die Musik, doppelt Bewegungen, Klanggesten aus der Partitur. Das tut nicht immer gut. Für den Ringkampf im Kostüm, den Kupfer auf dem Palettenbett und über der gigantischsten Beischlafmusik, dem einzigen sinfonischen Porno der Geschichte, als Sexualakt stattfinden lässt, hätte man sich einen wenigstens nur halbdurchsichtigen Vorhang gewünscht.
Ein unehrbarer Kaufmann wird interessant
Wer keine Tiefe hat in diesem Text, bekommt auch keine. Gebrochenheit wird neben der unschuldig-schuldig werdenden Frau nur Boris, ihrem perversen Schwiegervater zugestanden, der so rätselhaft zwielichtig durch den ersten Akt peitscht und pöbelt und der Katerina trotzdem seltsam nahe kommt.
Anatoli Kotschergas unehrbarer Kaufmann lebt halt leider relativ früh ab. Und lässt einen mit seinem unterpotenten Sohn Sinowi (Sergey Shorokodov) und dem überpotenten Liebhaber Sergej (Misha Didyk) als männliche Identifiktationsfiguren allein. Was weder schauspielerisch noch musikalisch eine ganz feine Sache ist.
So spielt, so singt alles Anja Kampes Katerina zu. Sie braucht einen Moment, dann ist sie im Zentrum Katerinas und des blutigen Wirbelsturms, den sie entfesselt. Schostakowitsch hat aus dieser Katerina, die er geliebt, nicht verurteilt wissen wollte, eine horrende Charakterstudie gemacht, den Kreuzweg einer Schächerin gewissermaßen.
Den Entwicklungsroman einer Mörderin aus unterforderter Seele. Anja Kampe glüht das alles auf. Sie schrillt, sie flüstert. Sie verwächst mit dem Orchester. Kirill Petrenko am Pult trägt sie auf Händen, wie er sie schon in Bayreuth auf Händen getragen hat.
Stalin, das ist der wohl berühmteste Opernskandal des 20. Jahrhunderts, hat „Lady Macbeth“ nicht nur einfach nicht gemocht, hat das Stück nach der Uraufführung 1934 niederschreiben, verbieten lassen, hat Schostakowitsch in Todesangst gestürzt damit. Wenn man wieder auf die Straße und zum Christkindlmarkt entlassen wird in München, weiß man auch warum.
Mit diesem Volk war kein Staat zu machen
Nicht weil das Volk hier eine einzige geile Masse ist, die sich ihre Frustration an sich selbst vergewaltigt, sich schlägt, sich mordet, sich besäuft, eine Versammlung Vorteilsgieriger, aus dem kein Staat zu machen war.
Nicht weil die vorrevolutionäre Polizei Russlands eine ziemlich exakte Karikatur der postrevolutionären und ihrer Methoden ist. Nicht weil am Ende wieder Menschen in die Lager wanken, aus anderen Gründen als unter Stalin, aber in die selbe Richtung (und die selben Lager).
Sondern weil er Angst hatte vor dieser Musik. Die vor Mitleid glüht mit diesen Menschen auf dem Weg zur endgültigen Auslöschung. Die aus Tiefen des Schmerzes schreit, wie kaum eine andere Opernmusik schreit. Die beweglich ist wie keine andere Opernmusik. Die tanzt und pulst, lustig ist und garstig, Masken trägt, ein Wechselbalgist.
Ständig unterwegs in den Figuren und um sie herum und wieder in sie hinein. Wie ein Irrwisch in alle Ecken der Tragödie leuchtet. Eine Musik, die alles weiß, was die Figuren selbst nicht wissen, sie karikiert, ironisiert, ohne sie bloßzustellen.
Im Stahlbad der Stile gewesen. Glücklich
Die alles kann, ohne sich in dem zu verlieren, als was Stalin die Partitur bezeichnen ließ – „Chaos statt Musik“. Die alle und alles trägt. Die allem über ist.
Abgesehen vielleicht von Kirill Petrenko. Der bringt das alles mit dem in allen Klangfarben, Grellheiten, Zärtlichkeiten und Dunkelheiten aufstrahlenden Staatsorchester hervor. Das stürzt sich auf jedes Detail, das Petrenko die Musiker entdecken lässt, wie ein Kind auf den nächsten Weihnachtskeks.
Und er wirkt dabei – die Sänger führt er zwischendurch auch noch genauso präzise wie die Triangel – so derart lässig, als könne er nebenbei eigentlich noch irgendetwas anderes anderes erledigen.
Könnte man das vielleicht noch einmal haben, fragt man sich am Ende, wenn man das zärtliche, gewalttätige Stahlbad der Stile hinter sich hat. Nur zum Hören, um herauszufinden, wie er das gemacht hat, wie er geschafft hat, dass dieser starke Toback einen derart wahnsinnig und glücklich macht, dass man glühend dasitzt und erschüttert. Und könnte er vielleicht doch früher nach Berlin kommen.