So starb noch kein gekröntes Haupt

Die Schwulenbewegung hat den mittelalterlichen König Edward II. zu einer Ikone gemacht. Dieser Lesart folgen auch der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini und sein Librettist Thomas Jonigk.

Georg-Friedrich Kühn
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«Edward II.» als Oper von Andrea Lorenzo Scartazzini in Berlin uraufgeführt. (Bild: Monika Rittershaus)

«Edward II.» als Oper von Andrea Lorenzo Scartazzini in Berlin uraufgeführt. (Bild: Monika Rittershaus)

Blut, Schweiss, Emotionen – hart geht's zur Sache hier. Schon in Christopher Marlowes Drama über den mittelalterlichen englischen König Edward II. wird mit Deftigkeiten nicht gespart. Die Lords wollen ihn aus dem Weg räumen. Sogar die eigene Gattin konspiriert mit deren Wortführer, erklärt dem König den Krieg, weil Edward sie nicht mehr in seinem Schlafzimmer duldet. Seine ganze Gunst und Liebe gilt dem Gespielen aus Kindertagen, dem Gascogner Piers de Gaveston. Ihn, den schon einmal Verbannten, hat er zurückholen lassen, arrangiert für ihn Feste, greift tief in die Staatskasse, erhebt ihn, einen Adligen niederen Standes, zum obersten Würdenträger am Hof. Die Revolte gärt.

Angstträume

Nach einem gemeinsam mit Thomas Jonigk erarbeiteten Libretto hat der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini aus diesem Stoff eine Oper geschaffen. In der Uraufführung, die Christof Loy jetzt an der Deutschen Oper Berlin herausbrachte, manifestiert sich der Volksaufstand gleich zu Beginn: Männer mit blutverschmierten Jacken drängen den König höhnisch zur Heirat mit seinem in ein blutiges Brautkleid gehüllten Günstling und rammen ihm symbolhaft eine Stange in den After. Es ist einer der Angstträume dieses taumelnden Königs.

In einer späteren Szene wird die Bigotterie des hetzerischen Bischofs buchstäblich enthüllt, indem man ihn seines Amtes und üppigen Reifrocks entkleidet und er zum verkappten Schwulen mutiert. Zwei Diener, die erst stramm die Parolen des jeweiligen Machthabers nachplappern, Würstchen und Chips mampfend, entdecken bei den angeordneten Pogromen sich selbst als Schwule. Am Ende lungern sie in SM-Strapsen als Helfershelfer von Edwards Henker um den Kamin und machen es sich «gemütlich».

Die Bühne von Annette Kurz zeigt in einem Raum mit verliesartigen Gängen eine gotische Turmruine. Die dreht sich im Lauf des Abends einmal um die eigene Achse, dient als Versteck oder Unterschlupf. An der äusseren Wand windet sich lasziv eine androgyne Figur, die u. a. dem König gern als Liebes-Joker für den neuerlich verbannten und schliesslich grausam hingerichteten Gaveston zu Willen ist. Die Botschaft von Gavestons Hinrichtung muss ausgerechnet Edwards minderjähriger Sohn dem wieder mit sich selbst beschäftigten Vater bringen. Der Prinz erledigt das sprechend, aber auch mit ein paar Oktav-Sprüngen singend (exzellent: Ben Kleiner). Auf seinem Weg in den Tod wird Edward von einem Engel begleitet. Seine Hinrichtung zeigt man – ein eleganter Kunstgriff – als Schaubild an historischem Ort. Edward muss dem Profikiller den Hintern hinstrecken und geduldig den Stoss mit einer glühenden Stange erwarten. Gaveston beugt sich über den Geliebten.

Sehr farbig, bildkräftig, dicht ist die Musik des 1971 in Basel geborenen Andrea Lorenzo Scartazzini. Nie verdeckt sie die Gesangsstimmen. Sie schattiert die Einsamkeit des Königs (Michael Nagy), seine Gebrochenheit als gehetzter Aussenseiter. Aber auch die Figuren in seinem Umfeld – Gaveston, der alerte Liebhaber (Ladislav Egr, stets in Feinripp-Unterwäsche); Isabella, die verstossene Königin (Agneta Eichenholz); Mortimer, der diktatorisch auftretende Militärführer der Gegenpartei und Vertraute Isabellas (Andrew Harris); die beiden Comic-Helfer-Figuren –, sie alle entfalten ihre je eigene Aura. Und gleichfalls das Volk, das von der Regie wie eine strudelnde Masse geführt wird. Reichlich beschäftigt ist die Kostümabteilung (Klaus Bruns). Thomas Søndergård am Pult hält den grossen Apparat präzise und klangschön zusammen.

Zur Ikone gemacht

Für die Nachwelt wurde Edward zur Ikone der Schwulenbewegung – eine Interpretation, die sicherlich über die historischen Fakten hinausgeht. Tatsache ist aber, dass die Vernachlässigung seiner Amtspflichten in einen Sumpf der Korruption führte, der ihm zum Verhängnis wurde. 1327, im Alter von 43 Jahren, wurde er bestialisch ermordet, wie genau, weiss man nicht. Sein Sohn regierte als Edward III. die nächsten fünfzig Jahre. Das Einmaleins des Teile-und-herrsche hatte er schon als Minderjähriger aufgeschnappt; so schickte er die Mutter zurück nach Frankreich und lieferte ihren Liebhaber Mortimer dem Henker aus. Jonigk hält sich im Wesentlichen an die zeitgenössischen Quellen und an Marlowes dem Sujet innerlich verbundenes Schauspiel. Allerdings verschiebt Jonigk den Akzent stark von den desaströsen Zuständen am Hof und im Staat zu den persönlichen Problemen Edwards. Andere Bearbeitungen des Stoffs gibt es von Brecht und in einem Film von Derek Jarman.

Etwas störend in dem Libretto von Thomas Jonigk, der übrigens schon für Scartazzinis 2012 in Basel uraufgeführte Oper «Der Sandmann» das Buch erarbeitete, wirkt die fast sakrale Überhöhung Edwards II. zu einer Art Schmerzensmann und Heiligenfigur. Reflexionen über den Lauf der Welt dehnen den Abend am Ende unnötig. Sonst inszeniert Loy sehr stringent, gibt zumal den männlichen Figuren ein klares Profil. Der Beifall für dieses 90-minütige, filmschnitthaft geformte Werk war denn auch einhellig. Ein schöner Erfolg.