Gay-Event: EDWARD II. von Scartazzini/Jonigk

Premierenkritik Kollektive Aufbahrung einer Schwulen-Ikone in der Deutschen Oper Berlin

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In dieser Spielzeit steht die Deutsche Oper Berlin - was Neue oder neuere Musik betrifft - ganz konkurrenzlos an der Spitze der drei Stiftungs-Häuser! Außer Edward II. kamen oder kommen noch der Voguing-Ball Gianni (am 1. Oktober), das Kindermusiktheater Das Geheimnis der blauen Hirsche (am 4. November), Dido mit Musik des jüngst verstorbenen Michael Hirsch (am 28. Januar), Brittens Tod in Venedig (am 19. März) oder das Opern-Triptychon Die Durchbohrung der Welt (am 28. April) zur Aufführung - das Alles zeugt, wenn man allein die aufwändige und schon legendäre Repertoire-Pflege an diesem Musentempel mit in die Betrachtung zieht, von einer außerordentlich-bemerkenswerten Selbstbewusstheit!

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Der gestern Abend erstmals offerierte als wie überschwänglich hochgejubelte Edward II. wurde diesbezüglich schon als produktiver Kraftakt wahrnehmbar; ja und sowohl der musikantisch-sängerische als wie inszeniererische Aufwand hatten eingestand'ner Maßen hochbeträchtliches Format - also (rein äußerlich): Gespart wurde an keiner Ecke.

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"Thomas Jonigk und Andrea Lorenzo Scartazzini stellen in ihrer Auseinandersetzung die Frage nach dem Umgang auch der heutigen Gesellschaft mit Außenseitern. [...] Thomas Jonigks Libretto für Edward II. stützt sich auf Quellen des 14. Jahrhunderts sowie auf Christopher Marlowes gleichnamiges Drama. In freiem Umgang mit den Vorlagen arbeitet er mit filmschnittartig nebeneinander gesetzten Szenen aus Edwards Leben, die den Bogen schlagen von den Albträumen des Königs über Hetzjagden des Mobs, Buffo-Szenen in Shakespeare-Tradition bis hin zu Fragen nach Tod und Transzendenz. Scartazzinis Komposition entzündet sich unmittelbar an diesen szenischen Vorgängen, er überträgt die Szenenfolge in ein dichtes, 90minütiges Musiktheater für zehn Solisten, Chor und ein großes Orchester mit mächtigem Schlagzeugapparat. (Quelle: deutscheoperberlin.de)

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Das durch den Innenzirkel Kurzbeschriebene [s.o.] konnte/kann selbstredend nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Schreiber dieser Zeilen beim Erleben des Gehörten wie Gesehenen aufs Fassungsloseste gelangweilt hatte. Freilich kennt er, zum Vergleich, Christopher Marlowes hochgeniales und bis heute untoppbar-brutales Stück [das in 2011, nur um ein Beispiel anzuführen, die Berliner Schaubühne in einer überambitionierten Nachdichtung des Holländers Bart van den Eynde auf die Bretter wuchtete], und auch das schöngeistige Film-Muss aller Gay-Community-Mitglieder, Derek Jarmans bildgewaltige Biografie-Orgie über den schwulsten aller Englandkönige, ist ihm ganz pflichtbewusst vertraut.

Die Frage, die sonach ganz individuell gestellt sein wollte (und auch musste), lautete: Lässt sich dann heutzutage, außer dem bereits sattsam Bekannten und Vertrauten - homosexueller Herrscher tut mit seinem Hang & Drang nach Gleichgeschlechtlichem die Heten-Königin/Gemahlin arg brüskieren und die Staatsgeschäfte schleifen lassen, woraufhin er sich nicht nur die Heten-Königin/Gemahlin, sondern auch zugleich den ganzen Heten-Hofstaat und den ganzen Heten-Homo-Klerus und (natürlich) auch das ganze mehr auf Fortpflanzung geeichte Volk zu Feinden macht; es kommt, was kommen muss - , eventuell auch noch ein bisschen Zielführenderes und Wegaufweisenderes für uns zeitgenössischen Edward-der-Zweite-Fans aufdecken? Was zum Nachdenken und/oder Nachfühlen??

Kaum ein in Schwulenkreisen sattsam ausgelutsches und, wie man doch hoffen wollte, längsthin überkommenes Klischee wurde nicht ausgespart; die allgemeine Optik (auch mit vielen Mannsbildern in Frauenkleidern; Kreationen von Klaus Bruns) dacapoierte also alles Das, wofür [wir] Schwule von den Stinos allgemein dann so verachtet und gehasst und "ausgestoßen" wurden, sind und immer wieder werden - Christof Loy, der Uraufführungsregisseur, zitierte also, fast schon kindisch, alles Das, was man für "diese Kreise" halt so in Verbindung bringt. Das ist schon etwas armselig.

Und trotz dass sich dann Thomas Søndergard, der Uraufführungsdirigent, die allergrößte Mühe gab, die meistens dauerexpressiv daherkommenden Scartazzini-Opernklänge (Vollorchestersound!) verhältnismäßig auszubremsen - nein, berühren tat das anderthalbstünde Werk (gewiss auch wegen seiner allzu vielschichtigen Nummern-Handlung, die vom Hundertsten ins Tausendste und hin und her zu driften/abzudriften schien) nicht sonderlich.

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Nichts desto Trotz hatte die musikalische Gereichung durch die Ausführenden ein schier unantastbares Niveau!

Michael Nagy und Ladislav Elgr imponierten als das Liebespaar Edward & Gaveston.

Agneta Eichenholz warf sich als ausgegrenzte Frau und Edwards Königin/Gemahlin in die Waagschale des üppigen Geschehens.

Andrew Harris überzeugte als der Königin/Gemahlinnen-Verbündeter und ergo Erzfeind aller Schwulen sowie Edwards im Besonderen.

Eine Paraderolle lieferte dann Burkhard Ulrich als Bischof von Coventry (im Reifrock und mit Spitzenunterwäsche) ab.

Markus Brück und Gideon Poppe sorgten für den mit einer Kneifzange herbeigezwungenen Humor im Stück; nur dank ihrer Persönlichkeiten ging der Plan in etwa auf.

Der Mörder Lightborn (den James Kryshak spielte) war als Jack the Ripper-Typ verkarrikiert.

Und Jarrett Ott (schön von Gestalt und Stimme) mimte den für Schwulenstücke untentbehrlich zu sein scheinenden Engel.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 20.02.2017.]

EDWARD II. (Deutsche Oper Berlin, 19.02.2017)
Musikalische Leitung: Thomas Søndergard
Inszenierung: Christof Loy
Bühne: Annette Kurz
Kostüme: Klaus Bruns
Licht: Stefan Bolliger
Chöre: Raymond Hughes
Dramaturgie: Yvonne Gebauer und Dorothea Hartmann
Besetzung:
Edward II. ... Michael Nagy
Isabella ... Agneta Eichenholz
Piers de Gaveston ... Ladislav Elgr
Roger Mortimer ... Andrew Harris
Walter Langton, Bischof von Coventry ... Burkhard Ulrich
Lightborn ... James Kryshak
Engel ... Jarrett Ott
Soldaten / Räte / Geistliche ... Markus Brück und Gideon Poppe
Spencer jr. ... Gieorgij Puchalski
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Uraufführung war am 19. Februar 2017
Weitere Termine: 24.02. / 01., 04., 09.03.2017
Kompositionsauftrag der Deutschen Oper Berlin an Andrea Lorenzo Scartazzini, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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