Wie viel Eros ist erlaubt?

Der Choreograf Demis Volpi inszeniert Benjamin Brittens letzte Oper nach der Erzählung von Thomas Mann als todesdüsteren und -trunkenen Sinnenrausch – mit zwei grossartigen Sänger-Darstellern.

Marco Frei, Stuttgart
Drucken
Thomas Mann und die Knabenliebe in der Oper: Stuttgart zeigt Benjamin Brittens spätes Meisterwerk «Death in Venice». (Bild: Oper Stuttgart)

Thomas Mann und die Knabenliebe in der Oper: Stuttgart zeigt Benjamin Brittens spätes Meisterwerk «Death in Venice». (Bild: Oper Stuttgart)

Er liegt regungslos am Boden, wie tot. Plötzlich erhebt er sich, steht wankend an der Rampe, mit aufgerissenem Hemd und weit geöffneten Augen, bis er jäh in sich zusammensackt. War alles nur ein furchtbarer Traum? Oder ist er tatsächlich gestorben? Einerlei, dieser Mann ist am Ende: zerbrochen im Konflikt zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Sehnsucht und Verstand, Verlangen und Moral. Es ist Gustav von Aschenbach aus Benjamin Brittens Oper «Death in Venice» nach der Vorlage von Thomas Manns berühmtester Erzählung.

Traum oder Wirklichkeit?

Wie Matthias Klink diesen Menschen zeichnet, das ist grosse Bühnenkunst. Gemeinsam mit Georg Nigl als Aschenbachs Gegenspieler – eine Mephisto-Figur in sieben verschiedenen Erscheinungen – bildet er ein überragendes, am Ende stürmisch umjubeltes Duo. Von ihren Leistungen profitiert die Neuinszenierung von Demis Volpi, die jetzt an der Oper in Stuttgart Premiere hatte. Es ist eine Koproduktion mit dem Stuttgarter Ballett, an dem der 31-Jährige als Haus-Choreograf wirkt. Volpi ist nominiert für den «Prix Benois de la Danse», und auch mit diesem «Tod in Venedig» ist ihm nun ein grosser Wurf gelungen.

Im Gegensatz zur Produktion von Graham Vick, die unlängst in Berlin Premiere hatte, vernachlässigt Volpi in Stuttgart nicht das vom Libretto vorgegebene Element des Tanzes, sondern stärkt es. Denn erst in der nonverbalen Kommunikation der Bewegung kann sich das Spiel von aufreizender Nähe und unüberbrückbarer Distanz entfalten. Dies hatte Britten mit den Tänzer-Rollen im Sinn, allen voran mit dem polnischen Jüngling Tadzio, dem Aschenbach verfällt. Es ist der schmale Grat zwischen Tabu und Norm, den Volpi aufzeigt und bisweilen kühn ausreizt.

Mit nackten Oberkörpern hopsen Jünglinge über die Bühne, nur in Unterhose gekleidet. Volpi stellt sie aus, zelebriert und inszeniert ihre Körperlichkeit. Das erinnert an die Aktfotos Wilhelm von Gloedens, der um das Jahr 1900 sizilianische Knaben in antikisierenden Posen abgelichtet hat. Thomas Mann und Britten kannten diese Arbeiten, und auch sonst zitiert Katharina Schlipf in ihrem Bühnenbild und der Ausstattung eifrig aus der Kunstwelt.

So wird der Tänzer David Moore als griechischer Gott Apollon ganz in Gold und mit Lorbeerkränzchen ausstaffiert; der Countertenor Jake Arditti singt ihn aus dem Off. Dies erinnert an die Partie des «Goldenen Idols» aus dem Tempeltänzer-Ballett «La Bayadère» von Léon Minkus, zumal in der legendären Choreografie von Rudolf Nureyev nach Marius Petipa: eine Paraderolle von Wilfried Romoli. Im ersten Akt posiert dieser Apollon auf einem goldenen Triumphwagen im Stil einer bewusst übersteigerten Gay-Trash-Ikone, wie sie etwa von dem bekannten Pop-Art-Duo Pierre et Gilles stammen könnte.

Tragik und Komik

Das alles ist ironisch, ohne in Klamauk abzugleiten. Volpi nimmt die Figuren und ihre Leiden ernst, zeigt Abgründe auf, ohne den Zeigefinger zu erheben. Er versucht, zu verstehen – und genau das ist die Stärke dieser Produktion. Die Bilder und Choreografien Volpis werfen dabei eine hochbrisante Frage auf: Wie viel Eros ist erlaubt?

Mit seinen Knaben-Akten – nach heutigem Verständnis wohl in einer Dunkelzone zwischen Pädophilie und Prostitution anzusiedeln – hat Gloeden einst Künstler wie Andy Warhol, Robert Mapplethorpe oder Joseph Beuys inspiriert. Als 2008 im schwäbischen Memmingen eine Gloeden-Schau eröffnet wurde, rügte indes das örtliche Jugendamt einen «sorglosen Umgang mit dem Thema der Knabenliebe».

In Manns «Tod in Venedig» und der Vertonung Brittens geht es um Diskurse, die schon Sokrates in Platons «Phaidros» entwickelt: um Körperlichkeit und Schönheit, den Widerstreit zwischen dem reinen Apollon und dem triebhaften Dionysos. Mann und Britten griffen dies auf, um jeweils zugleich verborgene Seiten der eigenen Persönlichkeit zu befragen. Als die Musikwelt 2013 den 100. Geburtstag von Britten feierte, gaben manche Würdigungen der Frage nach dessen sexuellen Neigungen breiten Raum. Ausser Frage steht, dass die meisten Opern Brittens um Homoerotik kreisen – «Death in Venice», sein letztes Bühnenwerk von 1973, stellt auch in dieser Hinsicht ein Schlüsselwerk dar. Und nicht zufällig geistert Aschenbachs erschütterter Ausruf «I love you», mit dem der erste Akt endet, als Motiv noch durch das 3. Streichquartett von 1975.

Volpi entwickelt in Stuttgart eine differenzierte Sicht: Als die Jugendlichen im zweiten Akt die Blicke Aschenbachs bemerken, vertreiben sie ihn. Sie wehren sich. Auch zuvor inszeniert Volpi den Traum Aschenbachs nicht, wie oft, als Vergewaltigung Tadzios, sondern als bedrohliches Ritual. Die Szenerie erinnert dabei an Bilder des deutschen Neo-Expressionisten Daniel Richter, der 2010 bei den Salzburger Festspielen das Bühnenbild zu Alban Bergs «Lulu» entworfen hatte. Und wer hier zuvörderst geopfert wird, das ist Aschenbach selbst. Er ist einem enthemmten Mob ausgeliefert, angestachelt von dem teuflischen Gegenspieler. Dieser Mephisto trägt das gestreifte T-Shirt von Tadzio – als wäre er der nun erwachsene Jüngling.

Verbotene Liebe

Aus der verbotenen wird, strafrechtlich gesehen, eine erlaubte Liebe, und bevor Aschenbach niedersinkt, wird er von seinem Gegenspieler auf den Mund geküsst. Volpi hat dieses Psychogramm der Musik selber abgelauscht: Tatsächlich lässt Britten den Traum Aschenbachs wie eine kultische Vision aus Prokofjews Oper «Der feurige Engel» klingen.

Die Schönheit Tadzios wird hingegen mit luzid-fragiler Klangsinnlichkeit eingefangen. Unter der Leitung von Kirill Karabits bringt das Stuttgarter Staatsorchester diese Gegensätze nuancenreich zum Klingen.