Die Bregenzer Festspiele 2017 zeigen Georges Bizets Erfolgsoper «Carmen» und die Rossini-Rarität «Moses in Ägypten» – beide mit allerlei medialen Erweiterungen. Doch fügen die dem Geschehen wirklich etwas hinzu?
Jeden Sommer verleihen die Festspiele am Bodensee dem sonst beschaulichen Bregenz internationales Flair. Das schlägt sich nicht zuletzt im Preisniveau der Hotellerie nieder, und das Bühnenbild der alle zwei Jahre wechselnden Produktion auf der berühmten Seebühne tut ein Übriges: Es ist in der Region – durch seine schiere Grösse und die öffentliche Wahrnehmung – so omnipräsent, dass sich sogar von einem temporären Wahrzeichen der Vorarlberger Landeshauptstadt sprechen liesse.
Dieses und nächstes Jahr sind es also die beiden naturalistisch gestalteten, surreal aus dem Wasser greifenden Frauenhände, riesig hoch, mit zwischen die Finger geklemmtem Glimmstengel, und diese Hände scheinen soeben ein Bündel vergilbter Spielkarten virtuos durch die Luft zu mischen. Imposant hat die Bühnenbildnerin Es Devlin diesen Moment eingefroren und als raumgreifende Spielfläche für Georges Bizets Oper «Carmen» gestaltet.
Es gehört jedoch zum Profil der Festspiele, sich nicht allein über die opulente Visitenkarte des Spiels auf dem See zu definieren, sondern daneben – in einer Art interner Quersubventionierung – ein anspruchsvolles Programm zu bieten, als dessen markantester Baustein jeweils eine zweite grosse Opernaufführung im Festspielhaus fungiert: meist ein wenig gespieltes Stück oder früher sogar eine Uraufführung, mit denen dezidiert auch «Kenner» angesprochen werden sollen.
Gleichwohl ist der Anspruch auch auf der Seebühne so hoch wie bei kaum einem anderen klassischen Open-Air-Festival, was sich unter anderem in der beispiellos ausgereiften Technik niederschlägt. Im Zentrum der schon für sich stets beeindruckenden Bühnenmaschinerie bildet die Tonanlage das schier unverwüstliche Rückgrat, das selbst bei Wetterbedingungen wie am diesjährigen Premierenabend – fast durchgehend intensiver Dauerregen und nur wenige Kilometer entfernt tosende Gewitter – tadellos funktionierte und noch immer viel an Plastizität und Differenziertheit vermittelte.
Auch was die (im Festspielhaus placierten) Wiener Symphoniker unter der Leitung des früheren Frankfurter Generalmusikdirektors Paolo Carignani hören lassen, steht einer hervorragenden Aufführung in einem Opernhaus nur um so viel nach, wie sich nun einmal durch die unumgängliche Vergröberung via Lautsprecher und Verstärkung nicht vermeiden lässt. Ungemein elastisch und fein ziseliert wirkt die Phrasierung, ausgewogen, klar und farbig der Orchesterklang, der Dramatik und Poesie in ein geglücktes Verhältnis bringt – was den Figuren auf der Bühne leider versagt bleibt.
Es mag sein, dass die akustischen Bedingungen Frauenstimmen gegenüber freundlicher sind; doch auch ohne diese Relativierung wirken die Herren an diesem Abend deutlich angestrengt (Daniel Johansson als Don José), ja fahl (Scott Hendricks als Escamillo). Gaëlle Arquez in der Titelpartie bietet dagegen ein verführerisch-dunkles Timbre und entwirft ein eindrucksvoll leidenschaftliches Rollenporträt. Elena Tsallagova schafft als Micaëla einen lichten, innigen Gegenpart.
Bei allen Mitwirkenden sind jedoch, unter den abenteuerlichen Witterungsbedingungen kaum verwunderlich, darstellerisch Abstriche zu machen. Dieser Eindruck wird unfreiwillig noch dadurch verstärkt, dass die Spielkarten des Bühnenbildes in der Inszenierung von Kasper Holten als Projektionsfläche unter anderem für Grossaufnahmen der singenden Personen verwendet werden – eine an sich reizvolle Idee, die jedoch einen Widerspruch zwischen der Wirkung im Bühnenraum und den geradezu entlarvend unter die Lupe genommenen mimischen Details mit sich bringt.
Auf mediale Erweiterung setzte man anderntags auch bei Gioachino Rossinis Werk «Moses in Ägypten» im Festspielhaus, bei dem das Theaterkollektiv Hotel Modern das Volk Israel in Gestalt unzähliger winziger, in ihrer Primitivität dennoch expressiver Puppen aus Gips und Draht in Echtzeit in Szene setzte.
Inmitten puppenhausgrosser Kulissen wurde dieses Geschehen per Videobildschirm auf die Dimensionen des Bühnenraums gezoomt und dort dann von den menschlichen Darstellern gewissermassen fortgesetzt. Als Grundidee war nachvollziehbar, dass das ganze Geschehen aus dem Spiel mit den Puppen erwachsen sollte – in der Umsetzung wirkte dies freilich alles andere als reibungslos, geschweige denn schlüssig.
Zwar suggeriert die Regie in einer Reihe von Einzelheiten eine Verbindung zwischen den Ebenen von Projektion und realer Darstellung. Das Ergebnis vermag freilich auch deshalb nur wenig zu überzeugen, weil die Sänger in der Regie von Lotte de Beer mehr sich selbst überlassen als stimmig geführt werden.
Dass die Mitglieder von Hotel Modern dabei die Opernhandlung nicht nur als Strippenzieher lenken, sondern sie zugleich – oft outrierend – kommentieren und durch unbeholfene Gags konterkarieren, führt dazu, dass diese Vorgänge (ob freiwillig oder nicht) streckenweise mehr wie eine Parallelhandlung denn wie eine ergänzende zweite Ebene anmuten. Die Sänger agieren inmitten dieser szenischen Schichten doppelt isoliert und werden als Figuren nur schemenhaft präsent.
Musikalisch machen sie gleichwohl das Beste aus ihren Möglichkeiten, wobei besonders Sonnyboy Dladla als Pharaonensohn Osiride aufhorchen lässt: mit einem fokussierten, strahlenden Tenor und elastischen Koloraturen. Die Wiener Symphoniker verleihen auch hier der Musik Plastizität und Eleganz, stilistisch diesmal in einem andeutungsweise historisch informierten Gepräge, in dessen Rahmen der Dirigent Enrique Mazzola Schroffheiten, bedrohliche Akzente und dramatische Effekte – etwa wildes Col-legno-Spiel – zutage fördert.
Begleitet von solch suggestiver Lautmalerei, entfalten die Projektionen des Puppenvolks dann doch eine nicht zu leugnende Wirkung. Nicht zuletzt deshalb, weil dabei Bilder von mit dem Meer kämpfenden Booten, Naturkatastrophen und menschlichem Leid vielerlei Assoziationen mit historischen wie aktuellen Geschehnissen ermöglichen. Doch auch diese Schicht wirkt durch ihre Monotonie irgendwann ermüdend: Im geteilten Roten Meer am Bodensee liegt kein Wunder und auch kein Geistesblitz.