Starke Bilder, intelligente Deutung eines heiklen Werkes: Regisseur Barrie Kosky schafft es, die gesamte "Meistersinger"-Geschichte aus Richard Wagners Fantasie erstehen zu lassen.

Foto: APA/AFP/BAYREUTHER FESTSPIELE/ENRICO NAWRATH

Hier gilt's der Kunst. Und das ist, der Wagner'schen Gesamtkunstwerk-Konzeption zum Trotz, dann doch erst einmal die Musik. Ja, Kanzlerin Angela Merkel war gewohnheitsmäßig ebenso in die fränkische Festspielstadt gereist wie die enthusiastische, diesmal auch vom Dauerregen in Aufregung versetzte Fangemeinde der Wagnerianer, deren Meinungen am Ende wieder einmal deutlich auseinandergingen.

Doch weder das Gedränge in den Wurstverkaufsstationen noch die drakonischen Sicherheitsvorkehrungen konnten der kontemplativen Stimmung im Festspielhaus etwas anhaben. Und obwohl die Vorgänge auf der Bühne schon mit dem Vorspiel ihren heißdiskutierten Lauf nahmen, war die Konzentration auf das, was aus dem Orchestergraben strömte, den ganzen Abend lang nicht nur möglich, sondern auch überaus ergiebig. Denn Dirigent Philippe Jordan gelang bei der Eröffnungspremiere der Bayreuther Festspiele eine runde, makellose und aufregende Realisation der "Meistersinger"-Partitur. Selten kommt ihr Facettenreichtum so deutlich zum Tragen, selten vermittelt ein Dirigent so souverän zwischen dem großen Zug und dem Detail.

Opulent und strahlend

Jordan präsentiert das C-Dur der Meisterfeierlichkeiten opulent und strahlend, doch ohne Hang zum Oberflächlich-Rauschhaften, da er dem Klang stets Transparenz und Tiefenschärfe gibt. Besonders die kontrapunktischen Teile erscheinen genau durchgebildet. Daneben lässt der Dirigent auch das Rohe und Wilde durchkommen, unterstreicht das Barbarische der Handlung, das in der Prügelfuge kulminiert. Stets plastisch und perfekt in das Orchestergewebe eingebettet sind Motive und Lautmalereien, während Nahtstellen zum Gesang und zur Bühne – gerade auch in vielen dramatischen Zäsuren und Verweilmomenten – ein vielfach ideales Ineinandergreifen der Ebenen ermöglichen.

Nicht nur in zahlreichen Details gehen Musik und Regie Hand in Hand, sondern wohl auch in der Überzeugung, dass man die "Meistersinger" nicht einfach affirmativ und unkritisch als festliche Spieloper abfeiern sollte. Zu belastet ist die Rezeptionsgeschichte, zu drückend auch der Hemmschuh der Deutschtümelei des Werks und die antisemitischen Konnotationen, die es begleiten. Bis heute umstritten blieb der Anteil, den Wagner selbst an alldem hatte.

Wagners Villa

Und so begann die Inszenierung von Barrie Kosky – bereits beim Vorspiel – direkt in Wagners Welt, in der Bayreuther Villa Wahnfried, wo der Hausherr gerade seine Hunde Gassi führte, Gattin Cosima einen Migräneanfall hatte und Franz Liszt sowie Hermann Levi – der Dirigent der Münchner "Meistersinger"-Uraufführung – zu Besuch kamen.

Im detailgetreuen, auch in den folgenden Akten wirkmächtigen Bühnenbild von Rebecca Ringst schlüpft Wagner selbst in die Rolle von Hans Sachs (grandios in Rollen- und Textgestaltung: Michael Volle), Cosima mutiert zu Eva (expressiv, mitunter etwas herb: Anne Schwanewilms), Liszt zu Pogner (markant und wendig: Günther Groissböck). Levi, der als Sohn eines Rabbiners vom realen Wagner eine Reihe von Demütigungen hinnehmen musste, wird in Bayreuth von der Wagner-Figur bei der Kirchenszene derart drangsaliert, dass sich der folgende Zwang, den Sixtus Beckmesser (vielschichtig und tiefgründig: Johannes Martin Kränzle) zu geben, wie von selbst ergibt.

Kosky bewerkstelligt es, die gesamte Geschichte aus Wagners Fantasie erstehen zu lassen: Etliche Figuren entsteigen dem wie von Zauberhand geöffneten Flügel, auf dem Wagner und Liszt sich eben noch im vierhändigen Klavierspiel ergingen. Walther von Stolzing (mit großer lyrischer Kraft: Klaus Florian Vogt), David (kraftvoll und leichtfüßig: Daniel Behle) und Magdalene (souverän und sonor: Wiebke Lehmkuhl) gehören zu einer Fantasiewelt, der man den Versuch einer Romantisierung deutlich anmerkt. Der Chor der Lehrbuben hopst so beherzt herum, als wäre er soeben einer flachen, naiven Fantasie von Volksromantik entsprungen. Die Kostüme Klaus Bruns' machen deutlich, wohin die Reise geht: Mittelalter-Idealbilder durchdringen sich mit dem 19. Jahrhundert ebenso wie – ansatzweise – mit den dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts, wenn schon am Schluss des ersten Aufzugs ein Soldat aus dem Zweiten Weltkrieg vor Wahnfried Stellung bezieht.

Eine grüne Wiese

Der folgende Schauplatz kann im zweiten Aufzug nur historisch Versierten auf Anhieb klar sein, wächst doch eine grüne Wiese durch den Saal: Im dritten Akt entpuppt er sich als Schwurgerichtssaal der Nürnberger Prozesse, im dem auch die "Festwiese" angesiedelt wird – als verzweifelter Versuch, die deutsche Identität nach Krieg und Holocaust zu retten. Als Symbol dafür läuft die große zentrale Uhr hier rückwärts. Dreh- und Angelpunkt von Koskys intelligenter Zeitreise ist der Umgang mit dem ausgestoßenen Beckmesser, der am Ende des zweiten Akts zur bühnenhohen Projektionsfläche einer antisemitischen Karikatur im "Stürmer"-Stil wird, nachdem der Sündenbock krankenhausreif geschlagen wurde.

Ein starkes Bild, das jedoch eine bedeutungsvolle Relativierung erfährt, da Wagner/Sachs die Gewalt bremsen möchte, bevor er seinerseits fortgedrängt wird. Bezeichnenderweise hält er schließlich seinen Schlussmonolog auf der leeren Bühne, und für das Nachspiel wird ein Teil des Orchesters auf die Bühne gefahren, Sachs/Wagner wird zum Dirigenten.

Es gilt der Kunst. Ob sie zu retten ist, muss sich stets aufs Neue zeigen. Lösung gibt es für die "Meistersinger" keine – ihre Fragen und Probleme wurden aber schon lange nicht so eindringlich aufgezeigt. (Daniel Ender, 26.7.2017)