Familie Wagner beschäftigt sich mit sich selbst

Das alljährliche Richard-Wagner-Festival eröffnet mit einer Neuinszenierung der «Meistersinger von Nürnberg» und einem Festakt zum 100. Geburtstag von Wieland Wagner. Ein wenig Gelassenheit würde allen Beteiligten dabei guttun.

Christian Wildhagen, Bayreuth
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Auch er wird sich vor dem Tribunal der Nachwelt verantworten müssen: Hans Sachs (Michael Volle) alias Richard Wagner in Barrie Koskys Inszenierung der «Meistersinger von Nürnberg». (Bild: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele)

Auch er wird sich vor dem Tribunal der Nachwelt verantworten müssen: Hans Sachs (Michael Volle) alias Richard Wagner in Barrie Koskys Inszenierung der «Meistersinger von Nürnberg». (Bild: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele)

Die Revolution beginnt mit einer einsamen Trompete. Auf leisen Sohlen schleicht sich der Geist der Subversion ins Bayreuther Festspielhaus. Die Trompete nämlich eröffnet das Vorspiel zu «Rienzi», zur dritten vollendeten Oper Richard Wagners. Die gehört jedoch normalerweise nicht zum Kanon der vom Meister noch selbst für seine Bühne gutgeheissenen Werke – jener zehn Opern also, vom «Fliegenden Holländer» bis zum «Parsifal», die man seit 1876 hier auf dem Grünen Hügel heiligt und feiert.

Freilich geschieht an diesem Abend gleich noch mehr Unerhörtes: Kurz darauf erklingen drei Bruchstücke aus Alban Bergs «Wozzeck» (mit der eindringlich-expressiven Claudia Mahnke als Marie). Und geradezu der Gipfel der Zumutungen für jeden orthodoxen Wagnerianer ist erreicht, als schliesslich auch noch nahezu der gesamte vierte Akt aus Giuseppe Verdis «Otello» (mit der feinfühligen Camilla Nylund als Desdemona) von der Festspielhausbühne herabtönt. Was geschieht da? Eine Zeitenwende im Allerheiligsten? Ein Sockelsturz womöglich?

Harmonie im Hause Wagner?

Alles halb so schlimm – und dennoch aussergewöhnlich. Denn die aufmüpfige Werkfolge gehört zu einem Festakt, mit dem am Vorabend der Festspieleröffnung – diesmal mit der Premiere der «Meistersinger von Nürnberg» – des 100. Geburtstages von Wieland Wagner gedacht wird. Die Nachfahren des früh verstorbenen Komponistenenkels, der die Entrümpelungsästhetik von «Neu-Bayreuth» nach 1951 wesentlich prägte, hatten das Programm entworfen; in Abstimmung, ja in «grosser Harmonie» mit der Festspielleitung, wie Katharina Wagner an diesem Tag auffallend oft betont.

Harmonie im Hause Wagner? Noch so eine Neuerung, die stutzig macht, Und skeptisch, aus Erfahrung. Die amtierende künstlerische Leiterin scheint vor lauter Harmonie jedenfalls zu verkennen, welch kecke Laus der von ihr dauerhaft ausgebootete Wieland-Stamm den Festspielen hier in den Pelz gesetzt hat. Denn unschwer kann man in der Auswahl der Werke und Komponisten einen Nachklang ebenjener programmatischen Öffnung hören, die Nike Wagner, Katharinas ewige Konkurrentin, in ihren Konzepten zur Zukunft der Festspiele propagiert hatte. Tatsächlich musste eigens eine Ausnahmegenehmigung bei der Richard-Wagner-Stiftung eingeholt werden, um an diesem noch immer Wagner vorbehaltenen Ort Musik von Grössen wie Verdi und Alban Berg spielen zu können. Willkommen im 21. Jahrhundert!

Vielleicht aber ist wirklich Harmonie ausgebrochen bei den Wagners. Immerhin setzt Katharina Wagner mit der neuen Reihe «Diskurs Bayreuth» noch eine weitere Idee um, die sich ähnlich in den Bayreuth-Plänen ihrer Cousine Nike fand. So oder so ist das Projekt, das sich unter der Leitung von Marie Luise Maintz mit der diffizilen Wirkungsgeschichte von Wagner und seinem Werk auseinandersetzen soll, seit Jahrzehnten überfällig. Für 2018 ist sogar die Uraufführung einer eigenen Musiktheater-Produktion im historischen Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth in Aussicht genommen.

Bevor diese erfreulich zukunftsweisenden Pläne Platz greifen, beschäftigt sich Familie Wagner allerdings den Rest des Abends wieder einmal mit sich selbst. Auf Bitten der Wieland-Kinder hält Sir Peter Jonas, der frühere Intendant der Bayerischen Staatsoper, eine rhetorisch brillant aufgebaute Festansprache. Darin verfällt er zum Glück nicht in die an diesem Ort lange Zeit übliche Idolatrie. Vielmehr werden die Verstrickung Wieland Wagners in den Nationalsozialismus und seine prekäre Rolle als Protégé Adolf Hitlers ebenso offen angesprochen wie die psychischen Probleme, die ihm die Last von Scham und Schuld beim Neuanfang nach dem «Dritten Reich» bereiteten.

Als freilich Wolf-Siegfried Wagner, der älteste Sohn Wielands, die gleichen Themen in aphoristischer, reichlich larmoyanter Manier nach dem (übrigens auch akustisch äusserst stimmigen) «Otello»-Auszug noch einmal aufgreift, ertappt man sich bei dem Gedanken, welcher anderen deutschen Familie wohl ein ganzes Festspielhaus mit üppiger staatlicher Alimentierung zur Verfügung stände, um sich öffentlich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen – darunter solche, die so oder ähnlich auch viele politisch deutlich weniger belastete Deutsche nach 1945 mit sich ausmachen mussten.

Der Künstler Wieland Wagner erschien daneben seltsam unausgeleuchtet – was auch dem peinlichen Ausfall einer Projektionsanlage geschuldet war. Von Jonas’ klugen Bemerkungen über den Einzug des griechischen Mythos ins Oberfränkische abgesehen, blieb das letztlich allein entscheidende künstlerische Wirken Wielands am Ende so flüchtig wie sein Nachleben auf ebendieser Bühne seit den 1970er Jahren.

Der Stachel im Fleisch

Die inbrünstige Beschäftigung mit sich selbst und der eigenen Kunstproduktion ist freilich von jeher ein Erfolgsmodell hier in Bayreuth, schon seit den Tagen des grossen Urahns. Und eben hier setzt auch Barrie Koskys Neuinszenierung der «Meistersinger» an: Es geht dem Intendanten der Komischen Oper Berlin um Richard Wagners Selbstüberhöhung und die Abgründe, die sich in der Feier des eigenen Schöpfertums auftun. Aus der richtigen Erkenntnis, dass Wagner in den «Meistersingern» seine eigene Kunsttheorie affirmativ zur Anschauung gebracht hat, entwickelt Kosky eine biografische Engführung des Autors mit seinen Figuren.

Dies ist ein Kunstgriff, der aus etlichen Inszenierungen des Norwegers Stefan Herheim bekannt ist – der erste Akt, der nicht in Nürnberg spielt, sondern in der Bibliothek der Bayreuther Wagner-Villa Wahnfried, könnte denn auch fast eins zu eins einer Produktion des grossen Bühnenzauberers entstammen. Da wird fleissig mit Porträts des «Meisters» und seiner Cosima hantiert, die übermächtigen Ahnen sind selbstverständlich auch leibhaftig auf der Bühne anwesend, und zwischendrin entspringen prächtig altdeutsch verkleidete Meister (Kostüme: Klaus Bruns) aus der von Geisterhand geöffneten Klappe eines Flügels. Nur dass bei Herheim, der das Werk 2013 in Salzburg inszeniert hat, solche Szenen meist viel leichter, spielerischer und weniger brachial-humorig wirken.

Dabei hat Koskys Ausgangsüberlegung viel für sich. Wir wohnen ein Jahr vor Beginn der ersten Festspiele einer Art Autorenlesung in Wahnfried bei, in deren Rahmen Wagner die «Meistersinger» dem schillernden Kreis seiner Anhänger vorstellt. Allmählich verwandeln sich die Anwesenden – noch so ein Herheim-Trick – in die Personen des Stücks: Wagner in den Schusterpoeten Hans Sachs, der in Walther von Stolzing (Klaus Florian Vogt) sein jugendlich-feuerköpfiges Alter Ego erkennt; die verhärmte Cosima in die leider ebenfalls ziemlich altjüngferliche Eva (mit der sich die grosse Strauss-Sängerin Anne Schwanewilms am Premierenabend keinen Gefallen tut); der Schwiegervater Franz Liszt (charakteristischer gespielt als gesungen von Günther Groissböck) schliesslich in den Goldschmied Veit Pogner. Aber da ist noch eine Figur, und mit ihr wird es ernst.

Den «Merker» Sixtus Beckmesser identifiziert Kosky nämlich mit Hermann Levi, einem treu ergebenen Wagnerianer, der 1882 die Uraufführung des «Parsifal» dirigieren wird. Der echte Levi war so etwas wie der Stachel im Fleische des durch und durch antisemitisch eingestellten Bayreuther Clans. Denn Levi war Jude – und blieb es, allen Bekehrungsversuchen Wagners und seiner Umwelt zum Trotz; Levi litt aber offenkundig massiv unter den nie verstummenden Anfeindungen. Kosky führt das Motiv recht subtil schon in der ersten Szene ein, als Levi-Beckmesser sich weigert, bei dem Choral «Da zu dir der Heiland kam» niederzuknien und sich zu bekreuzigen. Doch dabei bleibt es nicht.

Alles Folgende in der Inszenierung funktioniert strenggenommen nur unter der Prämisse, dass man die Grundüberzeugung Koskys teilt: dass nämlich das Stück in Gestalt des Sixtus Beckmesser die diffamierende Karikatur eines Juden enthalte. Nun liegt diese seit langem diskutierte These angesichts von Wagners beschämenden antisemitischen Entgleisungen in seinen Schriften zwar nahe, wird sich aber im Werk kaum je abschliessend beweisen lassen. Als Spielhypothese für eine Regiedeutung könnte sie immerhin aufschlussreich sein. Nur macht Kosky zu wenig daraus.

Bühnengrosser Popanz

Weite Teile des zweiten und des dritten Aktes bleiben im Spielopernhaften stecken – handwerklich solide, aber fad. Und hätte Kosky mit Michael Volle als Sachs und Johannes Martin Kränzle als Beckmesser nicht zwei so überragende Sänger-Schauspieler auf der Bühne, das Ganze bliebe weit hinter der konzeptuell zugespitzten Einstandsinszenierung von Katharina Wagner aus dem Jahr 2007 zurück. Sie hatte, damals noch Anwärterin auf die Festspielleitung, den Mut, das Rollenbild der beiden Protagonisten Sachs und Beckmesser nach und nach in ihr Gegenteil kippen zu lassen; den Meister-Dichter also zum Spiesser, den Kritikus aber zum Avantgardisten aus Notwehr zu machen. Kosky setzt dagegen nur an zwei Stellen ähnlich starke Zeichen.

Gleich wird man ihn mit einem Wagner-Porträt verprügeln: Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) weckt Urängste und ewiggestrige Ressentiments in Nürnberg. (Bild: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele)

Gleich wird man ihn mit einem Wagner-Porträt verprügeln: Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) weckt Urängste und ewiggestrige Ressentiments in Nürnberg. (Bild: Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele)

Einmal am Ende des zweiten Aufzugs, wo Levi-Beckmesser in Gestalt von fünf Schtetl-Juden zunächst von den eigenen Urängsten als assimilierter Jude heimgesucht wird. Aus ihnen erwächst dann wiederum das bis zur Bühnengrösse aufgeblasene Zerrbild eines orthodoxen Juden: ein Popanz des übelsten Antisemitismus im Stile Veit Harlans, der bedrängend ins Publikum starrt. Das ist fraglos mit dem (auch sonst auf der Bühne viel bemühten) Holzhammer inszeniert; aber es ist ein Bild, das in Erinnerung bleibt. Stärker noch wirkt das Ende des dritten Aktes mit der heiklen Schlussansprache.

Wider Erwarten zeigt Kosky den Volks-Künstler Sachs alias Wagner hier nicht als Hetzer, sondern als Angeklagten. In dieser Rolle muss sich Wagner-Sachs im historischen Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse verteidigen, der seit dem zweiten Akt das Bühnenbild (Entwurf: Rebecca Ringst) der Aufführung bildet. Schliesslich steht er ganz allein im weiten Raum. Muss geradestehen für sich, sein Werk, seine Worte. Und die Geste, mit der er zu der Textstelle «uns bliebe doch die heil’ge deutsche Kunst» ein munter fiedelndes Statisten-Orchester auf die Bühne winkt, wirkt gleichermassen verzweifelt wie fragwürdig.

Das echte, auf vielen Positionen erneuerte Festspielorchester im unsichtbaren Graben macht es unter der Leitung von Philippe Jordan bedeutend besser; obschon Jordan, ungeachtet vieler kammermusikalisch feingeschliffener Details, noch kein klares stilistisches Gesamtkonzept erkennen lässt. Das wird sich ohne Frage mit den kommenden Aufführungen entwickeln, wie man überhaupt den Beteiligten dieser merklich unter Überspannung stehenden Premiere etwas mehr Gelassenheit wünscht. Die kann im Umgang mit Wagner generell nicht schaden.