Mehr Chaos, bitte!

Schostakowitschs «Lady Macbeth von Mzensk» mit Nina Stemme und Mariss Jansons hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Der «Satire-Tragödie» um eine selbstbestimmte Frau aus der Provinz, die unter dem Druck der Verhältnisse zur Mörderin wird, fehlt etwas Entscheidendes.

Christian Wildhagen, Salzburg
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Eine der explizitesten Szenen der Operngeschichte: Katerina Ismailowa (Nina Stemme) und Sergei (Brandon Jovanovich) überlassen sich verbotener Lust. (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Eine der explizitesten Szenen der Operngeschichte: Katerina Ismailowa (Nina Stemme) und Sergei (Brandon Jovanovich) überlassen sich verbotener Lust. (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Man kommt aus dem Staunen nicht heraus: Das war es nun also, das Skandalstück, das seinen Urheber einst um Haaresbreite das Leben gekostet hätte? Dieses wüste Genre-Drama, an dessen ehedem als geschmacklos, ja obszön empfundenen Exzessen sich heute die Zuschauer in wohligem Schauder weiden? Um dann am Ende, nach dreieinhalb Stunden, nicht etwa in Protestgeheul auszubrechen, sondern in Jubel? Wie kann das sein? Irgendetwas stimmt nicht bei dieser Neuproduktion von Dmitri Schostakowitschs Oper «Lady Macbeth von Mzensk» an den Salzburger Festspielen. Nur ist nicht leicht zu ergründen, worin der Fehler liegt.

Auf den ersten Blick passt nämlich alles zusammen an diesem hochkarätig funkelnden Abend im Grossen Festspielhaus. Im Graben sitzen die Wiener Philharmoniker, am Pult steht kein Geringerer als der Schostakowitsch-Experte Mariss Jansons, und die namhafte Konstellation hält, was sie verspricht: Selten dürften die sonst für ihren überragenden Wohlklang gefeierten Philharmoniker so lustvoll zugepackt, so hingebungsvoll hart und doch kontrolliert gespielt haben wie in der genialisch-ungehobelten Bühnenmusik des gerade 25 Jahre alten Schostakowitsch. Wirklich hässlich klingt das bei diesen bis in die Fingerspitzen kultivierten Musikern noch immer nicht; doch ihre feinnervige Wiedergabe von Mahlers 9. Sinfonie – drei Tage zuvor unter Bernard Haitink – zum Massstab genommen, wirkte der Zugriff geradezu brachial.

Nicht mit der – partiturbedingt – hohen Lautstärke und dem hinreissenden Engagement der Musiker beginnen denn auch die Probleme bei dieser Produktion, wohl aber mit dem Mangel an einer klaren interpretatorischen Haltung. In seinem durch und durch philharmonischen Geist bügelt das Orchester nämlich das Widerborstige dieser Musik gründlich platt: Statt den frechen, collagehaften Mix unterschiedlichster Stile und Genres – von entfesselten Tanz- und Rummelplatzmusiken über Can-Cans, Walzer-Imitationen und Märsche bis zu Chorälen – parodistisch zu schärfen, vernimmt man einen fraglos äusserst virtuosen Klangstrom, worin jedoch dem Disparaten gleichsam die Ecken und Kanten abgeschlagen wurden. Das erinnert ein wenig an die Hyper-Virtuosität früherer sowjetischer, aber auch mancher heutiger Orchester aus Putins Reich, bei denen kühle Perfektion ein Schutzschild ist, um sich nicht allzu sehr auf den subversiven Geist der Musik einlassen zu müssen.

«Chaos statt Musik»

Gerade das Kantige, Lärmige dieses Stücks, sein Aufbegehren gegen jedweden «guten Geschmack» und die Lust an der offenen Provokation waren es aber, die Schostakowitsch 1936, zwei Jahre nach der Leningrader Uraufführung, in akute Lebensgefahr brachten – erregten die Provokationen des jungen Komponisten doch den Zorn Josef Stalins. Nach einem Besuch der Oper machte der Diktator dem Ärger Luft in jenem berüchtigten «Prawda»-Artikel mit dem vernichtenden Titel «Chaos statt Musik», der nicht nur das Leben und das Schaffen von Schostakowitsch von Grund auf ändern sollte.

Dieser Text, wohl nach direkten Vorgaben Stalins oder sogar von ihm selbst verfasst, war vielmehr das Fanal einer neuen Eiszeit im gesamten sowjetischen Kulturleben, begleitet von ideologischen «Säuberungen», denen Hunderte zum Opfer fielen. Die fortan bedingungslos durchgesetzte Doktrin ästhetischen Biedersinns namens «Sozialistischer Realismus» bedeutete zugleich die Abkehr vom russischen Futurismus (dem der junge Schostakowitsch nahestand) und von allen Strömungen der westlichen Moderne.

Eine Ahnung dieser historischen Sprengkraft hätte man gern auch noch in einer heutigen Wiedergabe der Musik verspürt – und man hätte ebenso gern etwas vom aufrührerischen Subtext des Stückes auf der Bühne gesehen. Doch Andreas Kriegenburgs Inszenierung setzt, weit mehr noch als Jansons’ Dirigat, auf den Reiz einer vordergründigen Stimmigkeit, unter deren Oberfläche freilich kein revolutionäres Feuer brodelt. Teil des Problems ist das Einheitsbühnenbild von Harald B. Thor, das die gefürchtete Überbreite der Festspielhausbühne mit Fassaden eines sozialistischen Plattenbaus zustellt. Das wirkt imposant und stellenweise recht atmosphärisch (Licht: Stefan Bolliger), zwingt Kriegenburg aber dazu, auch den vierten Akt, der eigentlich in den tödlichen Weiten Sibiriens spielt, in den Innenhof dieser Wohn-Hölle zu verlegen – was nicht überzeugt.

Das Ende im sibirischen Straflager ist unausweichlich: Schlussszene aus der Salzburger Produktion der «Lady Macbeth von Mzensk». (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Das Ende im sibirischen Straflager ist unausweichlich: Schlussszene aus der Salzburger Produktion der «Lady Macbeth von Mzensk». (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Die Handlung der ersten drei Akte spielt sich überwiegend in zwei Wohnungen ab, die jeweils aus den Fassaden heraus in die Bühnenmitte fahren. Das ist technisch fraglos aufwendig, wackelt dennoch arg – und trägt auch sonst nicht sehr weit. Denn warum die offenbar wohlhabende Kaufmanns- oder Oligarchensippe der Ismailows überhaupt inmitten des Beton-Albtraums haust, lässt die Inszenierung ebenso im Vagen wie die weit interessantere Frage, in welcher Zeit und Gesellschaftsordnung sich das Geschehen eigentlich abspielt. Statt hier konkret zu werden und der «Satire-Tragödie» (wie Schostakowitsch seine Oper nannte) damit Biss zu geben, rettet sich Kriegenburg in einen allenfalls durch ein paar Video-Überblendungen gebrochenen Bühnen-Naturalismus.

Schwester der Salome

Dem entspricht das psychologisierende Rollenbild, das Nina Stemme mit grösster Eindringlichkeit von der Titelfigur der Katerina Ismailowa zeichnet. Die gelangweilte Kaufmannsgattin, die unter dem Druck der Verhältnisse zur vierfachen Mörderin und somit zur Wiedergängerin von Shakespeares Lady Macbeth wird, ist bei Stemme eine verspätete Schwester ihrer Paraderollen Salome, Brünnhilde und Elektra: eine starke, emanzipierte Frau, deren Hunger nach Leben und unbegrenzter sexueller Befriedigung erst durch die schwachen Männer ihrer Umgebung angefacht wird. Kriegenburg und Stemme weichen hier sinnfällig von der Vorlage Nikolai Leskows und vom Libretto ab: Nicht die Langeweile der Provinz weckt in Katerina die Begierde, für die sie alsbald über Leichen geht, sondern erst das Erlebnis des völlig Anderen in Gestalt des hochpotenten Womanizers Sergei, dem Brandon Jovanovich kraftvolle Kontur gibt.

Gegenspieler und erstes Opfer des Paares ist der Familienpatriarch Boris, der mit Dmitry Ulyanov ungewöhnlich jung, aber hervorragend besetzt ist. Dieser Boris Ismailow ist sozusagen ein in diue Jahre gekommener Sergei, wird selbst beherrscht von dunklen Gelüsten, die er sich aber mithilfe eines kuriosen Allzweck-Deodorants vom Leibe hält – die einzige satirische Überzeichnung der Regie, die zündet. Die Auseinandersetzungen zwischen Ulyanov und Stemme werden zu Höhepunkten der Aufführung, ebenso die Szenen mit dem Chor der Wiener Staatsoper, der hier – wie so oft in der russischen Oper – Opfer, Mittäter, Spiegelbild und Leidtragender der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.