Wie geht eine Gesellschaft mit Heuchelei, unterdrückten sinnlichen Wünschen und Ambivalenz um? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt der klugen Inszenierung vom Regieteam um Patrick Kinmonth. Das Team schafft es, den mittelalterlichen Stoff von Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg in unsere Zeit zu transportieren. Durch eine eher unkonventionelle Lesart wird gezeigt, wie die Wirkung von verschiedenen Kräften auf Menschen Einfluss nehmen kann. Der Standpunkt der guten, reinen Elisabeth sowie des schlechten Tannhäusers wird aufgelöst. So wird das individuelle Leid und die Zerrissenheit von Tannhäuser und Elisabeth überzeugend auf eine Metaebene verschoben.

Fluch und Segen für die Oper Köln stellt die Interimsspielstätte im Staatenhaus dar. Einerseits hat man die Chance ständig einen neuen Bühnenraum angepasst auf das Werk zu kreieren, andererseits schränken die vorhandene Statikelemente des Hauses physisch ein und die niedrigen Decken wirken sich auf die Akustik aus. Aus dieser Not machte Darko Petrovic eine Tugend. Er gestaltete ein eher spartanisches Einheitsbild auf der wohl breitesten Bühne Deutschlands, mittig durchzogen von einer Gebirgsschlucht und mit einer Eisenbrücke über selbiger. In dieser Schlucht sitzt das Orchester und bildet dadurch das bildliche Zentrum der Bühne. Fahrbare Lichtsäulen durchziehen die Bühne und korrespondieren ästhetisch mit den hinten auf der Bühne stehenden Statiksäulen des Hauses.

Während der Ouvertüre sitzen die Minnesänger des selbstgefälligen Landgrafens separiert zwischen diesen Statiksäulen und flüchten mit ihren Laptops in die virtuelle Welt. Dabei werden ihnen von einer Schar verführerischen Venusmädchen sinnliche Genüsse näher gebracht. Jeder für sich alleine, keiner sieht oder vielmehr möchte den Anderen dabei sehen. So muss sich auch niemand aus gesellschaftlichem Kalkül über die Lüste anderer echauffieren und kann so die in der Wartburggesellschaft unterdrückte Sexualität freudig ausleben. Auch beim Sängerkrieg haben die Ritter, scheinbar unbemerkt von der Gesellschaft, mentale Unterstützung durch ihre Freudenmädchen. Am Ende des Werkes scheint es hingegen akzeptiert, in Begleitung der sündigen Mädchen zu sein – sie wahren nun ja auch nach außen einen sozialverträglichen Schein durch das Tragen Elisabeths Kleider. Welch widerwärtige Heuchelei.

Im Nachthemd wandelt Elisabeth während der Ouvertüre im gedanklichen Konstrukt des Venusberges umher und ekelt sich vor der heidnischen Liebe. Dennoch ist diese Teil von ihr und schlummert verbogen in ihrer Seele. Um diese veränderte Deutung der Elisabeth auszubalancieren bringt Kinmonth eine ständig umherwandelnde heilige Jungfrau Maria (Silke Natho) auf die Bühne. Sie versucht, genauso wie ihre Antagonistin Venus, die Handlung von außen zu steuern und lässt ihre Kraft auf die Protagonisten wirken. Es wird nicht nur mit der Figur des Tannhäusers gespielt, sondern mit allen beteiligten Personen und im Speziellen auch mit Wolfram von Eschenbach. Wolfram ist in dieser Inszenierung physisch im Venusberg, kann dadurch die ständig umherwandelnde Venus sehen und genießt sichtlich ihre Verführungsversuche. Gleichzeitig krümmt er sich aber auch im dritten Akt vor inneren Qualen durch die vermeintlich moralischen Verwerfungen. Keiner bleibt von Venus verschont.

Das eigentliche dramaturgische Zentrum des Werkes, der Sängerkrieg, wird spannend und packend inszeniert. Ständig durch den Einfluss der beiden Gegenpole Maria und Venus provozierend, spitzt sich das Geschehen zu. Es kulmuniert in der gedanklichen Verbildlichung des Krieges und der Überzeichnung der fast schon schizophrenen Künstlernatur Tannhäusers. Er nimmt die von Venus gereichte Axt, um, ähnlich wie in einem Ego-Shooter in der virtuellen Welt, die Begleitdamen der Ritter zu zerhacken. Anschließend lässt er die Axt im „Wunderbronnen“ verschwinden und wäschst sich die Hände im verunreinigten Wasser rein. In dieser absurden Welt ist eine beglückende und erfüllende Partnerschaft zwischen Menschen nicht möglich und eine wahrhaftige Vereinigung kann wohl erst im Tode, hier nach der Kremation Elisabeths, stattfinden.

Musikalisch bot sich im Vergleich zur Inszenierung kein einheitlich positives Bild. David Pomeroy wurde den sehr hohen Anforderungen der Partie des Tannhäusers teilweise nicht gerecht. Neben Ausspracheproblemen war in weiten Teilen auch eine geringe Aussagekraft bei Lieben und Leiden wahrzunehmen. Heilsuchende „Maria“- oder „Elisabeth“-Rufe wirkten mehr gezwungen als von tiefer innerer Überzeugung. In der „Romerzählung“ war dann auf einmal alles Fehlende vorhanden. Auch überzeugte er im Duett „Gepriesen sei die Stunde, gepriesen sei die Macht“ mit Kristiane Kaiser. Ihre Elisabeth wurde durch eine frische, junge und klare Stimme, jedoch keinesfalls naiv wirkend, mit Leben gefüllt.

Stimmlich überzeugte Dalia Schaechter als Venus in hohen Lagen nicht vollends, wirkte hierbei eher klanglich eng und gedrückt. Dieser Eindruck wurde durch ihr überzeugendes Spiel mit hoher Präsenz und einer schönen Mittellage wettgemacht. Einprägend waren die beiden Auftritte des Landgrafens, erinnernd an frühkapitalistische Dekadenz, mit qualmender Zigarette. Sowohl stimmlich markant und klar als auch charakterlich stark verlieh Karl-Heinz Lehner der Rolle selten gesehenes Profil und deutete im Spiel die Vielschichtigkeit seines Charakters an. Auch Miljenko Turks Interpretation des Wolfram zeichnete einen ambivalenten Charakter mit wenig Kitsch und Lyrik, dennoch sehr berührend.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten im ersten Akt schaffte es François-Xavier Roth mit seinem Gürzenich-Orchestra in der heiklen Akustik des Staatenhauses eine wunderbare Klangbalance herzustellen. Dunkel und düster wenn nötig, impressionistisch mit feinfühliger Agogik als Begleiter sowie mystisch, blau-schimmernd beim transzendentalen dritten Akt. Passend hierzu der toll intonierende Chor von Andrew Ollivant. Insgesamt kann man von einem formidablen Wagner-Debüt von Roth sprechen und die Saisoneröffnung der Oper Köln unter Kinmonths Regie als sehr gelungen einstufen.

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