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„Hänsel und Gretel“ in Stuttgart: Ohnmachtsfantasien

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Regisseur Kirill Serebrennikov ist einmal auch im Film zu sehen, der die Aufführung in der Stuttgarter Staatsoper bestimmt.
Regisseur Kirill Serebrennikov ist einmal auch im Film zu sehen, der die Aufführung in der Stuttgarter Staatsoper bestimmt. © Foto: Bernd Weibrod/ dpa

Keine normale Inszenierung, sondern eine bewusst unfertige und hilflose, auch emotionale Aufführung - und eine Demonstration für den in Russland verfolgten Regisseur Kirill Serebrennikov: Die Stuttgarter Staatsoper zeigt Humperdincks „Hänsel und Gretel“.

Stuttgart - Was für ein Theater, dieses Russland, ein imaginäres. Man sitzt drin, auf dem Vorhang prangt groß „Putin“. Doch was sich dahinter verbirgt, das weiß man erst, wenn sich der Vorhang hebt. Und manchmal, so denkt sich das Kritikerin und Festivalchefin Marina Davydova auf dieser Podiumsdiskussion, weiß es der neue Zar wohl selbst nicht genau. Land, (Kultur-)Politik, alles ungreifbar, und dies als bewusstes System, als staatlich beförderte Unsicherheit. „Die Sowjetunion war ehrlicher, da wusste man wenigstens, dass zensiert wird.“

Auch das nimmt man also mit von diesem Tag in Stuttgart, an dessen Ende eine Inszenierung von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ steht, die doch keine ist. Wie lange Regisseur Kirill Serebrennikov noch Hausarrest in Moskau erdulden muss, ob danach die maximale zehnjährige Haftstrafe verhängt wird, darüber gibt es keine Gewissheit, nicht einmal Vorzeichen. So voller Fragen, wie das Publikum aus der nachmittäglichen Diskussion im überfüllten Foyer geht, so hilflos bleiben alle später nach Hexentod und Kinderbefreiung zurück.

Als das Ensemble beim Schlussbeifall ins Opernhaus winkt, als sogar die beiden farbigen Hauptdarsteller auf die Bühne kommen, reißt es die Menschen von den Sitzen. Tränen, Emotion, auch Trotz und die Gewissheit: Für ihre Situation hat die Stuttgarter Staatsoper die richtige Lösung gefunden. Keine konzertante Aufführung des Märchenstücks, auch keine Ersatz-Regie durch Intendant Jossi Wieler wäre angemessen gewesen. Ohnmacht, Überforderung, Hilflosigkeit, Unfertigkeit sind kein Malus, alles wird – auf teils fantasievolle Weise – sichtbar gemacht.

Zwei Kinder aus Ruanda wachen in Stuttgart wieder auf

Während also draußen ein Transparent mit „#freeKirill“ hängt, wird drinnen über das Schicksal des Regisseurs gesprochen. Weggefährten sitzen auf dem Podium und dröseln den Fall mit den mutmaßlich falschen Anschuldigungen auf. Unterschlagung staatlicher Gelder für nie gezeigte Produktionen? Serebrennikov brachte die Aufführungen in Russland heraus. Absetzung seines Nurejew-Balletts wegen schlechter Tänzer? Die Staatsmacht, so die einhellige Meinung, stieß sich an der Thematisierung von Nurejews Homosexualität. Dies alles und noch mehr demnach haltlose Vorwürfe der Putin-Garde? Selbst wenn Serebrennikov die Möglichkeit einer Teilschuld trifft – mit rechtsstaatlichen Grundsätzen hat das russische Vorgehen nichts zu tun. „Bei uns heißt es nun arbeiten und abwarten“, sagt Autor Valery Pecheikin, Mitstreiter Serebrennikovs am Moskauer Gogol-Theaterzentrum. „Wir funktionieren, als sei nichts passiert.“

Eine einzige Sache konnte Serebrennikov für „Hänsel und Gretel“ fertigstellen, und es ist die wichtigste: ein Film, der Humperdincks Märchen dort verortet, wo Armut heute noch lebensbedrohlich ist, in Ruanda. Im Frühjahr wurde dort gedreht. Hänsel und Gretel als zwei afrikanische Kinder, die von der Mutter vertrieben werden, sich in der Hauptstadt Kigali verirren, dort auf einen geheimnisvollen albinoartigen Mann treffen, einschlafen und schließlich in Stuttgarter Überfülle aufwachen. Irritationen in der Fußgängerzone, statt Hexenhaus eine Kuchenschlacht in der Konditorei, zum Finale mit angehaltenem Atem der Gang ins Opernhaus. Serebrennikov zeigt da überragende Filmregie-Qualität. Halbdokumentarisch ist alles mit Aufnahmen, die so stark, so eindrücklich sind, dass es einem den Hals zuschnürt. Erst recht, als zum „Abendsegen“ eine Kinderschar ernst in die Kamera schaut. Das Männlein im Walde ist ein Versehrter mit Beinprothesen. Auch der Völkermord in Ruanda schwingt plötzlich mit.

Alles ist nahezu perfekt auf die synchron laufende Musik geschnitten. Was sich der Regisseur als neuartige Interaktion von Kino und Live-Geschehen dachte, als Film zur Oper zum Film, bleibt jetzt rudimentär. Stuttgart bietet bewusst keine szenische Produktion, auch keine billige Betroffenheitsdemo, der Abend entzieht sich folglich (und richtigerweise) einer Kritik.

Die Kategorien der Opernvielseher helfen nicht weiter

Das Orchester mit dem so umsichtigen, die Musik klug abschmeckenden Dirigenten Georg Fritzsch sitzt auf der Bühne, an der Rampe singen die Solisten, agieren ein wenig, deuten oft bemüht auf die Leinwand. „Laienspiel“ unkt schon mancher, auch „Kolonialismus“ oder „Rassismus“, doch die Kategorien der Opernvielseher helfen nicht weiter. Wir zeigen zwei farbigen Kindern das schöne Europa und schicken sie dann zurück in den Busch? Einiges spricht dafür, dass Serebrennikov in seiner endgültigen Inszenierung das kritisch reflektiert hätte. Und die Gesangssolisten ganz anders einbauen würde: Stimmlich sind Diana Haller (Hänsel) und Esther Dierkes (Gretel) herausragend, gerade weil sie unangestrengt mit dem Riesenorchesterklang umgehen können. Irmgard Vilsmaier (Gertrud) und Michael Ebbecke (Peter) zeigen sich robust gelaunt.

Daniel Kluge gibt die rockende Hexe mit Besengitarre: Serebrennikov sparte die Hexenszenen im Film bewusst aus, wollte dafür eine reine Bühnenlösung. Die ist jetzt aus Improvisation entstanden. „To be continued“ liest man am Ende auf der Leinwand, Fortsetzung folgt. Stuttgart hat Serebrennikov, sollte er irgendwann freikommen, die Weiterarbeit garantiert. Oder, wie es Dirigent Georg Fritzsch formuliert: „Irgendwann macht Kirill das Ding fertig, das muss klar sein.“

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